Rezension über:

Olivier Hanne: De Lothaire à Innocent III. L'ascension d'un clerc au XIIe siècle (= Le temps de l'histoire), Aix-en-Provence: Presses universitaires de Provence 2014, 323 S., ISBN 978-2-85399-916-8, EUR 23,00
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Rezension von:
Andrea Sommerlechner
Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Sommerlechner: Rezension von: Olivier Hanne: De Lothaire à Innocent III. L'ascension d'un clerc au XIIe siècle, Aix-en-Provence: Presses universitaires de Provence 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/26888.html


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Olivier Hanne: De Lothaire à Innocent III

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Auch nach dem bahnbrechenden Aufsatz von Michele Maccarrone (1943) [1] und folgenden Detailstudien, die der Autor in seiner Einleitung Revue passieren lässt, fehle es an einer "synthèse d'ensemble de la biographie d'Innocent III jusqu'en 1198" (10). Eine solche herzustellen ist das erklärte Ziel des Buches von Olivier Hanne über den Aufstieg Lothars von Segni zum Papst.

Hanne stellt dazu zunächst die Quellen vor: die wichtigsten, auf die er seine Studie stützt, sind die drei in der Kardinalszeit verfassten Traktate De miseria humanae conditionis, De missarum mysteriis, De quadripartita specie nuptiarum; die bis 1208 reichenden Gesta, ein apologetisches Werk, halb Vita, halb Briefsammlung, aus der Entourage des Papstes; die "Korrespondenz", d.h. die Kanzleiregister des Papstes, wobei nicht ganz klar wird, wie der Autor diese Quelle versteht, denn die Bezeichnung von Reg. Vat. 4, 5, 7, 7A als "les plus proches des originaux" ist eine wenig glückliche Formulierung für originale Kanzleiregister (19); Ausschnitte aus Annalen und Chroniken, die anlässlich der Wahl oder als Resümee des Pontifikats auf die Vorgeschichte des Papstes eingehen.

Die Arbeit mit diesen Quellen ist unterschiedlich gewichtet: Die theologischen Werke werden durch Vergleich von Aufbau, Gedankengängen, Formulierungen usw. auf Abhängigkeiten, Einflüsse und ganz konkret die Lehrer Innocenz' III. befragt. Hinsichtlich der Kanzleiregister wird mit der Frage, welche Teile in seinen Briefen von Innocenz persönlich stammen, ein wichtiges Desiderat der Innocenz-Forschungen angesprochen; Voraussetzung für eine solche Vertiefung wäre es aber, Bausteine des Formulars als solche zu erkennen. Die historiografischen Werke erweisen sich, additiv verwendet, meist als wenig ergiebig. Vom Mainstream abweichende Chronisten wie Roger von Hoveden werden wohl generell als einerseits gut informiert, andererseits unzuverlässig präsentiert (232), jedoch unkritisch verwendet.

Ausgestattet mit diesem Instrumentarium führt Hanne durch den Werdegang Lothars von Segni: Der Vater Transmundus gehört zu den Adeligen der südlazialischen Campagna, die Mutter stammte aus der stadtrömischen Adelsfamilie der Scotti. Die Familiennetzwerke, die der Autor nachzeichnet, sind komplex, und Vieles bleibt unübersichtlich, was auch der hauptverwendeten Quelle, der Erzählung über die innerrömischen Adelskonflikte von 1204 in den Gesta, geschuldet ist.

Die Ausbildung führt den jüngeren Sohn Lothar nach Rom, dann nach Paris, schließlich zu einem kurzen Studienaufenthalt nach Bologna. Hier werden die Quellen zunehmend mit Mutmaßungen ergänzt: dass er z.B. in den Kardinälen Albert von Morra und Oktavian von Ostia seine Tutoren und Protektoren fand, ist gut möglich, aber nicht belegbar; dasselbe gilt für den Pariser Aufenthalt in Sainte-Geneviève und das Nahverhältnis zu dessen Abt Stephan von Tournai. Nochmals: Die Register Innocenz' III. auf persönliche Aussagen abzuhören und aus diesen Beziehungen und Netzwerke dingfest zu machen, bleibt problematisch: Das gilt schon für prerogativa dilectionis specialis (108 mit Anm. 101), die so speziell nicht sind. Wenn Hanne Belege für die Hochachtung, die Lothar seinem Lehrer in Paris Peter von Corbeil entgegenbrachte, mit einem päpstlichen Schreiben untermauert: "le pape y vante la litteratura et la scientia de son maître, sa probité et sa honnêteté" (125), so macht er aus der sprachlichen Dutzendware bei Empfehlungsschreiben ein Zeugnis besonderer Wertschätzung; oder: dass der Papst dem berühmten Pariser Theologen Petrus Cantor "un bon souvenir" bewahrt, liest er aus der Bezeichnung bone memorie P. cantor Parisiensis (129 und Anm. 174, Brief I 14 Seite 24 Zeile 5, ebenso Brief 188 Seite 179 Zeile 23). Einen anderen methodischen Weg bei der Rekonstruktion von Innocenz' Werdegang schlägt der Autor ein, wenn er minutiös die Einflüsse der Schule von Saint-Victor, von einzelnen Persönlichkeiten wie Petrus Cantor, Petrus Comestor, Peter von Poitiers oder Alanus von Lille, oder auch Huguccio von Pisa, in den Werken Lothars von Segni sucht.

An der Kurie etabliert wird Lothar von Segni, Kanoniker von St. Peter, 1190 von Papst Clemens III. zum Kardinaldiakon von SS. Sergio e Bacco ernannt. Die Zeit des Kardinalats wird in der Darstellung bestritten durch die Zuwendungen Lothars zu seiner Titelkirche, die die Gesta aufzählen; die Referierung einiger Prozesse, in denen Lothar als Auditor fungierte; das von ihm verfasste Schreiben, in dem Kaiser Heinrich VI. zur Verteidigung der Christenheit aufgerufen wird; seine Predigten; eine ausführliche Analyse der drei Traktate. Die Überlegungen über das Verhältnis des Kardinals Lothar zu Papst Coelestin III. Bobo (171f.) bleiben dagegen rein hypothetisch.

Auch die Vorgänge um die Wahl Lothars zum Papst 1198 stehen auf quellenmäßig schwankendem Boden: Ein Netzwerk an Kardinal-Wählern wird konstruiert; eine - nur kurz angezweifelte - Geschichte bei Roger von Hoveden über die Versuche Coelestins III., abzudanken und seinen Neffen wählen zu lassen, dient als verbürgte Basis für die Strömungen im Kardinalskolleg; sich vorzustellen, wie Kardinal Oktavian von Ostia über seine und seines Schützlings Chancen dachte, ist immerhin reizvoll (221); das Konklave im Septizonium erzählt Hanne anhand einer weiteren Passage aus der Chronik Rogers von Hoveden über den Kardinal Johannes von Salerno, der als beinahe erfolgreicher Gegenkandidat verzichtet hätte, einer apologetischen Quelle (Gesta), und den Amtsantrittsbriefen Innocenz' III. (der, gemäß Formular, die Wahl widerstrebend, weil unwürdig, akzeptiert): er macht daraus eine Darstellung der Vorgänge auf dem Konklave, der Spannungen zwischen den Fraktionen, der Gefahr des Schismas, eines Volksaufstands usw.

"Innocenz n'est pas devenu pape sans l'avoir volu" (205) - das wird stimmen; die Kardinäle wählten in der schwierigen Situation von 1198 einen tatkräftigen, reformerischen, gebildeten und integeren Papst - auch das wird stimmen. Die Beziehung zwischen den Aussagen des Autors und den herangezogenen Quellen stimmt nicht.

Im reichhaltigen Anhang finden sich Ausschnitte aus mittelalterlichen Chroniken in Übersetzung; grafische Darstellungen zu den Beziehungen zwischen den römischen Adelsfamilien, den "rapports intellectuels directs" auf Lothar und der Filiation der historiografischen Quellen; zahlreiche Karten, Stiche und Fotos.

Der Wert der Publikation liegt vor allem darin, Vieles zusammengetragen und in einem Buch vereinigt zu haben und methodische Ansätze und Interpretationsspielräume aufgezeigt zu haben.


Anmerkung:

[1] Michele Maccarrone: Innocenzo III prima del pontificato, in: Archivio della R. Deputazione Romana di Storia Patria 66 (1943), 59-134.

Andrea Sommerlechner