Rezension über:

Alexandra Locher: Bleierne Jahre. Linksterrorismus in medialen Aushandlungsprozessen in Italien 1970-1982 (= Zürcher Italienstudien; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 570 S., ISBN 978-3-643-80159-3, EUR 34,90
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Rezension von:
Thomas Riegler
Wien
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Riegler: Rezension von: Alexandra Locher: Bleierne Jahre. Linksterrorismus in medialen Aushandlungsprozessen in Italien 1970-1982, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/26123.html


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Alexandra Locher: Bleierne Jahre

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Der italienische Linksterrorismus ist erst seit kurzem Gegenstand quellengestützter deutschsprachiger Forschung. [1] Umso mehr ist der hier zu besprechende Band von Alexandra Locher zu begrüßen. Es handelt sich um eine umfassende kulturgeschichtliche Studie zum Umgang von Politik, Medien und Gesellschaft in Italien mit dem Terrorismus der Brigate Rosse (BR). Im Fokus steht die Frage nach dem Zusammenhang von Handlungsveränderungen, Kommunikationsstrategien und diskursiven Verschiebungen. (533) Basierend auf einer Vielzahl an bislang nicht publizierten Print-Quellen aus verschiedenen Archiven (Erzeugnisse der BR, Zeitungsartikel, Äußerungen von Intellektuellen, Parteien- und Gewerkschaftsvertretern) rekonstruiert Locher die Geschichte der BR als Wechselspiel von Gewalthandlungen und deren Wahrnehmung. Dabei unterscheidet sie im Wesentlichen fünf Phasen: Gründung (1970/71), Blitzentführungen (1971-1973), mediale Praxis und zunehmende Polarisierung (1974-76), Konfrontation und Isolation (1976-1979) sowie Niedergang (1980-1982). Darüber hinaus gibt Locher einen einleitenden Überblick über die verschiedenen Akteure, die Kommunikationsmittel und den politisch-sozialen Kontext, aus dem heraus sich die BR entwickelten.

In der Gründungsphase waren die BR noch eine kleine Gruppe, die hauptsächlich in zwei Fabriken Mailands aktiv war. Verübt wurden Sachbeschädigungen, Personen wurden nicht verletzt. Handlungen, Inhalte und Kommunikationskanäle bezogen sich auf den Konflikt zwischen der lokalen Arbeiterschaft und dem Management. (142-145) Mit den Blitzentführungen von Direktoren und Personalverantwortlichen nach dem Vorbild der lateinamerikanischen Tupamaros steigerten die BR ihre mediale Sichtbarkeit und stellten diskursive Bezüge zur Resistenza her. (193) Erstmals richtig wahrgenommen wurden die BR aber wegen der Inszenierung ihrer Aktionen mittels Entführtenbilder: "Ihr Fotograf war kein bystander, sondern Mittäter, und das Bild wollte Denkweisen verändern." (536) Auf der anderen Seite begannen die Klandestinität und das "Abtauchen aus den milieuspezifischen Strukturen". (196f.) Als Gruppe wurden die BR so "immer augenfälliger, als Individuen aber immer unsichtbarer". (537)

Die Jahre 1974 bis 1976 waren laut Locher "entscheidend" - sowohl für die weitere Entwicklung der BR als auch für deren Wahrnehmung durch Medien und Institutionen. (286) Nach ersten Mordanschlägen (gegen Polizisten, Angehörige der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano sowie in BR-Untersuchungen engagierte Juristen) verblasste der "ritterliche Nimbus" der BR. (236) Diese hatten seit 1974 eine qualitative Wende hin zum "Angriff auf das Herz des Staates" eingeleitet. (240) Symbolischer Höhepunkt waren die Entführung und spätere Ermordung des Präsidenten der Democrazia Cristiana, Aldo Moro, 1978. Allerdings zeichnete sich hier bereits ein neuerlicher Kurswechsel ab: Während die Entführtenbilder in der Gründungsphase noch teils positive Reaktionen ausgelöst hatten, unterlief die Wahrnehmung des Polaroids von Moro aus dem "Volksgefängnis" die Absicht der Entführer. Ihr Opfer wurde zur "Metapher der bedrohten Zivilisation". (545)

In dieser Phase der Konfrontation etablierte sich der Terrorismusbegriff als fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses über die BR bzw. wurde sukzessive auf deren Sympathisantenumfeld (Autonomia) ausgedehnt. (412-435) Bereits ab 1977 überdachten die Medien zudem ihre eigene Rolle: Man steckte im Dilemma, man wollte einerseits eine Informationspflicht erfüllen, andererseits sich aber nicht als "Propagandaträger der Terroristen" missbrauchen lassen. (362) Die "anfängliche Instrumentalisierung der Medien" durch die BR verkehrte sich durch vermehrte Selbstzensur, Kommentierung und Dekonstruktion schließlich ins Gegenteil. Daraufhin verübte Morde an Journalisten ließen den Resonanzraum für die BR weiter zusammenschrumpfen. (464) In der Schlussphase glichen die BR laut Locher einer "außer Kontrolle geratenen Maschine": "Die Kommunikation brach ab. Die ausgesandten Signale galten zunehmend der eigenen Community, waren höchstens vorletzte verzweifelte Machtdemonstrationen." (465)

1981 positionierte sich der Corriere della Sera (CdS), eine der einflussreichsten Tageszeitungen, damit, überhaupt keine Dokumente der BR mehr zu veröffentlichen. "Das Fernsehen, die Radiostationen und die meisten Zeitungen folgten dem Beispiel des CdS, eine Nachrichtensperre über die BR zu verhängen", so Locher. (493) Zwar gelang es der Gruppe Anfang der 1980er Jahre mittels aufsehenerregender Aktionen (vier simultane Entführungen oder Morde), die Veröffentlichung von Flugblättern teilweise zu erzwingen, aber der mediale kommunikative Spielraum blieb eingeschränkt. Die Medien waren laut Locher "wesentlich daran beteiligt, dass der Terrorismus der BR seinem Ende entgegenging". Die BR hatten keine Macht mehr über den Diskurs, "die Medien ließen sich kaum noch instrumentalisieren". (544) Neben diesem Kommunikationsabbruch begründeten übergreifende Ermittlungsstrategien, präventive Maßnahmen und die zunehmende Ahndung jedes gewaltsamen Protestverhaltens den allmählichen Niedergang der BR, der sich bis Ende der 1980er Jahre hinzog. (546f.)

Die letzte Zeitspanne wird in Lochers Studie im Vergleich zu den vorangegangenen Phasen etwas kurz abgehandelt. Auch hätte eine deutsche Übersetzung der längeren italienischen Textpassagen die Lesbarkeit noch gesteigert. Unter dem Strich ist das Buch aber eine gelungene Bestandsaufnahme der Eigendarstellung bzw. Rezeption des italienischen Linksterrorismus. Die symbiotische Wechselbeziehung von Medien und terroristischer Gewalt tritt einmal mehr in den Vordergrund - genauso wie die Möglichkeiten zur Unterbindung terroristischer Propaganda. Hier ergeben sich für die künftige Forschung interessante Anknüpfungspunkte und Vergleichsmöglichkeiten mit modernen Terror-Phänomen sowie Kommunikationsmitteln.


Anmerkung:

[1] Vgl. u.a. Michaela Wunderle: Die Roten Brigaden, in: Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, 782-808; Johannes Hürter / Gian Enrico Rusconi (Hgg.): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969-1982, München 2010; Tobias Hof: Staat und Terrorismus in Italien 1969-1982, München 2011.

Thomas Riegler