Rezension über:

Christian Henrich-Franke: Die "Schaffung" Europas in der Zwischenkriegszeit: politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konstruktionen eines vereinten Europas (= Politik und moderne Geschichte; Bd. 19), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2014, 232 S., ISBN 978-3-643-12404-3, EUR 24,90
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Rezension von:
Johannes Dafinger
Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Dafinger: Rezension von: Christian Henrich-Franke: Die "Schaffung" Europas in der Zwischenkriegszeit: politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konstruktionen eines vereinten Europas, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/25894.html


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Christian Henrich-Franke: Die "Schaffung" Europas in der Zwischenkriegszeit: politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konstruktionen eines vereinten Europas

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Mit diesem Buch möchte Christian Henrich-Franke gemeinsam mit 22 Studentinnen und Studenten, die im Wintersemester 2012/13 eine seiner Lehrveranstaltungen an der Universität Siegen besucht haben, einen Überblick über Diskurse und Praktiken europäischer Vergemeinschaftung in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen geben. Dies ist begrüßenswert, denn eine umfassende Einführung, die die in großer Zahl vorliegenden Studien zu einzelnen Aspekten des Themas bündeln würde, gibt es nicht.[1] Besonders gut erforscht sind etwa der literarische Europadiskurs in der Zwischenkriegszeit, die von Richard N. Coudenhove-Kalergi angestoßene Paneuropa-Bewegung, Pläne für eine europäische Zollunion und eine weitergehende wirtschaftliche Verflechtung, sich damit teilweise überschneidende, hauptsächlich in Deutschland entwickelte "Mitteleuropa"- und "Abendland"-Konzepte sowie der Briand-Plan einer "europäischen Union". Zudem standen in einigen neueren Arbeiten die Europakonzepte der Arbeiterbewegung [2], konservative Ideen eines föderativen Europa auf der Basis von Regionen [3] und der Europadiskurs in Printmedien [4] im Mittelpunkt.

Henrich-Franke erwähnt in seinem kurzen Forschungsüberblick die älteren Studien nicht. Neben Hinweisen auf Darstellungen zur europäischen Infrastrukturgeschichte in der Zwischenkriegszeit findet man hier seltsamerweise nur eine Skizze der historischen Forschung zur europäischen Integration nach 1945, die ja gar nicht Thema des Bandes ist. Das Literaturverzeichnis, das übrigens nicht wie bei den folgenden Beiträgen unmittelbar an den Text anschließt, sondern an das Ende des Buches gesetzt wurde, enthält außerdem formale Ungereimtheiten: Bei zwei Titeln stimmen die Angaben zum Erscheinungsjahr in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis nicht überein, in einem Fall steht der Titel an der falschen Stelle im Literaturverzeichnis, und mindestens ein Autorenname wurde falsch geschrieben. Möglicherweise wurden auch Belege vertauscht, denn zwei angeblich wörtliche Zitate konnte ich bei Guido Thiemeyer nicht finden, der sich auf den angegebenen Seiten freilich grundsätzlich zum selben Thema äußert (14, 18). Bei der Darlegung des Aufbaus des Bandes - es gibt vier Hauptkapitel mit den Titeln "Diskurse über Europa", "Politik", "Wirtschaft" und "Gesellschaft" - ist die Nummerierung der Kapitel durcheinandergeraten. Dazu kommen falsche Bezüge und fehlende Leerzeichen sowie - in den Beiträgen der Studierenden - zahlreiche Ausdrucks-, Grammatik- und Satzfehler; Quellen- und Literaturangaben sind uneinheitlich, mitunter auch unvollständig, und selbst bekannte Namen wie Lujo Brentano oder Joachim von Ribbentrop werden falsch geschrieben, Fremdwörter mitunter auch mehrfach (z.B. "Kontouren", 152 und 224).

Es mag kleinlich erscheinen, in einer Rezension auf derartige Fehler aufmerksam zu machen, doch sie häufen sich hier in einem Ausmaß, das die Arbeit mit den Texten erschwert. Die Probleme beginnen schon auf dem Titelblatt: Es suggeriert, Christian Henrich-Franke sei der alleinige Autor des Buches, was eine falsche Erwartungshaltung erzeugt. Und der (mit einem kleinen Buchstaben beginnende) Untertitel konterkariert die Aussage im Text, es sei "bewusst [...] der offene Begriff 'Schaffung' [Europas] statt des engeren[,] auf intentionale Handlungen fokussierte Begriff [sic] der 'Konstruktion' gewählt" worden (13).

Unabhängig von der Begrifflichkeit: Dem Band liegt auf jeden Fall ein konstruktivistisches Europaverständnis zugrunde. Europa werde direkt (intentional), das heißt durch die Ingangsetzung von "Prozesse[n] der Vereinheitlichung, Vergemeinschaftung oder des Kennenlernens" und indirekt (nicht-intentional), das heißt durch "langfristige[s] Lernen aus politischen Ereignissen und Prozessen" oder durch "externe Einflüsse" "geschaffen" (13). Es ist wohl nicht intendiert, dass dies nach einem einmaligen Vorgang klingt. Dennoch scheint einigen Beiträgen des Bandes das Verständnis zugrunde zu liegen, "Europa" sei nach dieser "Schaffung" existent, ohne ständig neu verhandelt werden zu müssen. Zu wenig reflektiert wird auch, dass (nicht nur) in der Zwischenkriegszeit zahlreiche unterschiedliche Europavorstellungen und -konzepte miteinander konkurrierten, dass also keineswegs ausgemacht war, was genau hier eigentlich "geschaffen" werden sollte, dass vielmehr zu jeder Zeit umstritten war, was der Begriff Europa bezeichnete.

Die Beiträge, die thematisch am besten geeignet gewesen wären, die Ambivalenz des Europabegriffs zu verdeutlichen, vergeben dieses Potential: Der Aufsatz von Benjamin Bäumer und Hans-Peter Schunk zu "Mitteleuropa" blendet die deutsch-hegemoniale Dimension von Mitteleuropa-Konzepten in der Zwischenkriegszeit weitgehend aus und konzentriert sich auf Friedrich Naumanns eher gemäßigten Mitteleuropa-Plan. Jan Weissinger postuliert unter dem Titel "Antikommunismus", dass "[d]er Antikommunismus [...] zum ideologisch verbindenden Element innerhalb Europas" geworden sei (102), führt dies aber nicht weiter aus; stattdessen rekapituliert er die Geschichte des russischen Bürgerkriegs und die Beteiligung europäischer Staaten daran. Und bei Florian Pilger, der unter dem Titel "Homo Europaeus" anhebt, rassistische Konstruktionen eines "Europa der weißen Rasse" zu untersuchen, findet man wenig mehr als die Stilblüte, dass Rassismus ein "Element" sei, "das zu verbinden weiß" (193). Instruktiv ist dagegen der Beitrag von Steffen Platte zum Hauptwerk Oswald Spenglers; hier wird argumentiert, dass im "Untergang des Abendlandes" trotz des Terminus' "Abendland" im Titel "Europa [...] weder in Form eines abgeschlossenen, kohärenten Raumes, noch als Begriff einer übergeordneten Idee" greifbar werde (44).

Eine Stärke des Buches ist, dass es nicht nur Diskurse, sondern auch konkrete Praktiken europäischer Verflechtung in den Blick nimmt. Die Beiträge zu europäischen Infrastrukturen ("Eisenbahnen" von Timo Glenewinkel und Christian Weber, "Straßen" von Florian Dörrenbach), zum Tourismus in Europa (Philipp Bielesch) und zur Ausstrahlung eines gemeinsamen Radioprogramms in mehreren europäischen Ländern durch die International Broadcasting Union (Thomas Grab) enthalten Beispiele, wie "aus einem fragmentierten Kontinent ein gemeinsamer Lebens- und Erfahrungsraum werden" konnte (Dörrenbach, 180); diese Aufsätze zeigen aber auch, dass nicht jeder Kontakt über Landesgrenzen hinweg als Beispiel für gelungene "Europäisierung" zu werten ist. So resümiert Bielesch, eine "gemeinsame [...] europäische Perspektive" oder ein "ausgeprägtes Europabewusstsein" ließen sich am Reiseverhalten und in den Reiseberichten von Touristen nicht erkennen (190); diese hätten "kein einheitliches Europa" wahrgenommen (189). Grab macht darauf aufmerksam, dass das gemeinsame Radioprogramm der International Broadcasting Union ausgerechnet "National Nights" hieß und jeweils ein Land und "dessen" Kultur präsentierte (206), also Heterogenität innerhalb von Nationalstaaten tendenziell einebnete und dafür vermeintliche Unterschiede zwischen den Nationen in Europa betonte.

Ob alle Beiträge in den Band hätten aufgenommen werden müssen, sei dahingestellt, zumal nicht alle die Zwischenkriegszeit behandeln. Anderswo liest man kundigere Zusammenfassungen der Forschungsliteratur. Als Ganzes kann der Band, der kein neues Quellenmaterial erschließt, durchaus Denkanstöße geben. Für Studienanfänger, die Henrich-Franke als Zielgruppe ausgemacht hat, ist er aber nicht geeignet; sie müssen auf eine Überblicksdarstellung zum Thema weiter warten.


Anmerkungen:

[1] Gut, aber kurz (mit Verweisen auf Literatur zu den im Folgenden genannten Forschungsschwerpunkten): Matthias Schulz: Europa-Netzwerke und Europagedanke in der Zwischenkriegszeit, in: Europäische Geschichte Online, hg. vom Institut für Europäische Geschichte, Mainz, 3.12.2010. http://ieg-ego.eu/de/threads/modelle-und-stereotypen/modell-europa/matthias-schulz-europa-netzwerke-und-europagedanke-in-der-zwischenkriegszeit

[2] Vgl. Willy Buschak: Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und Europa im frühen 20. Jahrhundert, Essen 2014.

[3] Vgl. Undine Ruge: Die Erfindung des "Europa der Regionen". Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt a.M. / New York 2003, 41-120; ders.: The Call for a New European Order: Origins and Variants of the Anti-liberal Concept of the "Europe of the Regions", in: Anti-liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization, hg. von Dieter Gosewinkel, New York / Oxford 2015, 90-101.

[4] Vgl. Florian Greiner: Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, 1914-1945, Göttingen 2014.

Johannes Dafinger