Rezension über:

Oleg Vitalʹevič Budnickij: "Sveršilos'. Prišli Nemcy!". Idejnyj kollaboracionizm v SSSR v period Velikoj Otečestvennoj Vojny. [Es ist vollbracht. Die Deutschen sind da!“ Die ideologische Kollaboration in der UdSSR während des Großen Vaterländischen Krieges.], Moskva: ROSSPEN 2012, 325 S., ISBN 978-5-8243-1839-5
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Rezension von:
Ekaterina Makhotina
München
Empfohlene Zitierweise:
Ekaterina Makhotina: Rezension von: Oleg Vitalʹevič Budnickij: "Sveršilos'. Prišli Nemcy!". Idejnyj kollaboracionizm v SSSR v period Velikoj Otečestvennoj Vojny. [Es ist vollbracht. Die Deutschen sind da!“ Die ideologische Kollaboration in der UdSSR während des Großen Vaterländischen Krieges.], Moskva: ROSSPEN 2012, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/25504.html


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Oleg Vitalʹevič Budnickij: "Sveršilos'. Prišli Nemcy!"

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"Es ist vollbracht! Die DEUTSCHEN sind da" schrieb Olimpiada Poljakova am 19. September 1941 in ihr "Tagebuch". Ihre Freude über den Einmarsch der Deutschen in Puschkin, wo sie den Anfang des Krieges erlebte, ist offensichtlich. Eine ähnlich merkwürdig klingende Feststellung schließt den Eintrag zu diesem Tag: "Es ist die Freiheit!" Die Selbstzeugnisse der Menschen, die die Ankunft der Deutschen nicht nur begrüßten, sondern auch mit ihnen ideologisch sympathisierten und aktiv kooperierten, bilden Gegenstand der von Oleg Budnickij herausgegebenen Dokumentation "Sveršilos'. Prišli nemcy!". Damit wird ein Thema ausgeleuchtet, das in der sowjetischen Forschung lange Jahrzehnte einem Tabu unterlegen war und in der heutigen russischen Forschung sehr politisiert bleibt. Das Spektrum der Interpretationen reicht von der Apologie der "Befreiungsbewegung" Andrei Vlasovs bis zur Darlegung der Sichtweise des NKVD auf die Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern. In der Einleitung (O. Budnickij / G. Zelenina) wird ein Aspekt der Kollaborationsgeschichte herausgegriffen - die ideologische Zusammenarbeit. Hier betonen die Autoren, dass die Freude über die Ankunft der Deutschen bei den vielen verschiedenen sozialen Gruppen ausgeprägt war, die von der stalinistische Ideologie als "sozial feindlich" stigmatisiert und vom NKVD als Klassen- und später als Volksfeinde verfolgt wurden: "entkulakisierte" Bauern, Vertreter der verfolgten nationalen Minderheiten, vermeintliche "politische Gegner" in den kurz zuvor angeschlossenen Baltischen Republiken. Besondere Aufmerksamkeit erfährt jene Gruppe, die während der Sowjetzeit ein "Doppelleben" führte - Vertreter der gebildeten Mittelschicht. In der "inneren Emigration" lehnten sie die Sowjetmacht, ihre Ideologie und gesellschaftlichen Regeln ab. Die Zusammenarbeit mit den Besatzern, eingeschlossen eine aktive Partizipation an der antikommunistischen, antisemitischen Propaganda war ihre bewusste Entscheidung, und keine zufällige Konstellation.

Budnickij und Zelenina führen die historischen Quellen durch die Vorstellung von zwei "inneren" (und später realen) Emigranten ein: zum einen, die erwähnte Olimpiada Poljakova, die ihr "Tagebuch" unter dem Pseudonym Lidia Osipova (Titel: "Tagebuch einer Kollaborantin") 1954 in der Emigranten-Zeitschrift Grani veröffentlicht hatte, und zum zweiten, Vladimir Sokolov, dessen für das Programm für Russlandstudien an der Columbia University in der Mitte der 1950er Jahren verfasste Memoiren vorgestellt werden. Beide Autoren hatten sich an der "ideologischen Front" der NS-Propaganda aktiv beteiligt: Poljakova/Osipova publizierte in der pronazistischen Zeitung "Za rodinu" in Riga und Samarin schrieb für die Zeitung "Reč'" in Orel stark antisemitisch aufgeladene Texte.

Dem Herausgeber ist es zu verdanken, dass hier die spannenden Selbstzeugnisse des Kriegsalltags aus einer etwas anderen Perspektive präsentiert werden: Zum ersten Mal erscheint das "Tagebuch" von Olimpiada Poljakova in seiner Gesamtlänge, inklusive der wegzensierten, für die Emigrationsliteratur problematischen Stellen, die zum Beispiel von ihrem Antisemitismus und ihrer Verherrlichung der Gewaltstrukturen der deutschen Besatzer zeugen. Dabei kann der Text kaum als eine Quelle des "unmittelbaren" Geschehens gelesen werden, das vermeintliche "Tagebuch" stellt eine Nachrekonstruktion der Erlebnisse unter der deutschen Besatzung dar. Anhand dieser Quelle kann die Taktik der Erklärung und Schuldentlastung einer (ex post als problematisch wahrgenommenen) Zusammenarbeit analysiert werden: Wie kann man dem Leser sein Verhalten erklären, wie kann die eigene Rolle reflektiert werden in einem System, was zum Zeitpunkt des Schreibens bereits als menschenverbrecherisches Regime anerkannt wurde?

Die Selbstentlastung versucht Poljakova-Osipova durch die Dramaturgie des Narrativs von "Hoffnung" - "Enttäuschung" - "Kompromissfindung" zu erreichen. So sind die ersten Kriegsmonate die Zeit des sehnsüchtigen Wartens auf die Deutschen - "Gott, wann kommen endlich die Deutschen und dieses Bedlam [Tollhaus] hat ein Ende!" Die erste Begegnung Poljakovas mit Besatzern scheint ihre klischeehaften Vorstellungen von der kulturellen Überlegenheit der Deutschen zu bestätigen, - sie werden als "akkurat", "ruhig", "gut erzogen" dargestellt. In der späteren Phase des Erzählens (dramaturgisch - in der Phase der "Enttäuschung") kommen die Deutschen nicht mehr so kultiviert vor. Dies ist nur einer von vielen "Brüchen" in der Erzählung von Poljakova. Ein anderer Widerspruch des Textes besteht in der Beschreibung der Mitbürger, die einen ähnlichen Weg wie sie wählten und mit den Deutschen zusammenarbeiteten. Während sie zunächst schreibt: "Unser wahrer Patriotismus besteht darin, allen Feinden der Bolschewiki zu helfen", so charakterisiert sie am Ende der Erzählung Russen als "Opportunisten", die nur aus primitiven Habgier mit den Deutschen zusammenarbeiten würden. Genauso wenig wie die eigene bewusste Wahl ist die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber der Leningrader Zivilbevölkerung reflektiert. Das Massensterben an Hunger im Vorort Puschkin wird zwar detailliert beschrieben, allerdings nimmt es den Charakter einer Tragödie an - die Verantwortung für die Aushungerungspolitik wird nicht thematisiert. Zur wichtigsten Auslassung von Poljakovas Narrativs gehört jedoch das jüdische Schicksal - lediglich nebenbei erwähnt sie, dass sie in einem ehemaligen jüdischen Haus im Rigaer Ghetto untergebracht wurde, - was ihre Existenz "etwas betrübe".

Ein ähnliches Erinnerungszeugnis stellen Berichte von Vladimir Sokolov dar, in denen er die sowjetische Schulbildung und das Zivilleben unter deutscher Besatzung 1942-1944 beschreibt. Auch er schrieb unter Pseudonym (Vl. Samarin) und aus einem ähnlichen Impuls wie Poljakova: aus dem Bestreben, eine Apologie der aktiven Zusammenarbeit mit den Deutschen zu konstruieren. Auch hier ist die Dramaturgie der "Erinnerungen" ähnlich gestaltet - was zunächst als Hoffnung und sehnsüchtiges Warten auf die Deutschen beginnt, endet mit einer Enttäuschung, denn als eigentliche Ziele der NS-Besatzungspolitik stellten sich nicht Befreiung und Unabhängigkeit Russlands, sondern Kolonisierung und Eingliederung ins Reich, heraus. Die eigene Naivität reflektiert Samarin, der stets seine Gelehrsamkeit hervorzuheben versucht, an keiner Stelle. Nicht erwähnt wird auch die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, wobei die NS-Gräueltaten an der Zivilbevölkerung - SS-Revancheaktionen an den Zivilisten, Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, Raub und willkürliches Morden, angesprochen werden und letztlich die Enttäuschung von den "Befreiern" hervorbringen. Allerdings kann diese Enttäuschung dann doch nicht an der Überzeugung Samarins rütteln, dass die Bolschewiki die Hauptfeinde seien. Die anrückende Rote Armee würde die Macht mit sich bringen, die gegen ihr eigenes Volk kämpfe. Die Deutschen sind für Samarin das kleinere Übel, und somit vermag er auch seine Mitarbeit bis zuletzt - bis zu seiner Flucht zusammen mit den NS-Verwaltungsstrukturen nach Deutschland zu rechtfertigen. Die dramaturgische "Kompromissfindung", mit sich selbst und mit dem Leser, besteht in der Teilnahme an dem russischen Emigrantenbund NTS (Narodno-trudovoj Sojuz). Darin ähnelt sein Narrativ demjenigen Poljakovas.

Die Publikation dieser Quellen stellt einen wichtigen Beitrag nicht nur zu spezifischen Themengebieten wie dem Alltag in den besetzten Gebieten und der ideologischen Kollaboration dar, sondern auch zur Erinnerungsforschung. Das "Tagebuch" von Poljakova und die Erinnerungsberichte von Sokolov, weisen, auch wenn sie in unterschiedlichen politischen Kontexten entstanden sind, bestimmte Ähnlichkeiten auf: Die Komposition soll selbst-apologetisch wirken, bestimmte Aspekte (Mord an der jüdischen Bevölkerung, eigene aktive Mitarbeit) werden ausgelassen. Beide Quellen sind bemüht, die enthaltenen "Erinnerungen" an die vorherrschenden Diskurse anschlussfähig zu machen. Das Buch kann einem breiten Spektrum von Wissenschaftlern empfohlen werden.

Ekaterina Makhotina