Rezension über:

Susanne Hauser / Christa Kamleithner / Roland Meyer (Hgg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes (= Architekturen; Bd. 2), Bielefeld: transcript 2013, 442 S., ISBN 978-3-8376-1568-5, EUR 27,80
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Rezension von:
Marcus Frings
Darmstadt
Redaktionelle Betreuung:
Julian Jachmann
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Frings: Rezension von: Susanne Hauser / Christa Kamleithner / Roland Meyer (Hgg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/19372.html


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Susanne Hauser / Christa Kamleithner / Roland Meyer (Hgg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften

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Anthologien zur Architekturtheorie haben seit etwa der Jahrtausendwende Konjunktur. Sie versammeln einschlägige Quellentexte und machen sie in deutscher Sprache mit Erläuterungen und Literaturhinweisen einem breiten Publikum zugänglich. Trotz des Titels "Architekturwissen" muss das vorliegende Buch aber in einem anderen Kontext gesehen werden, in der Reihe der interdisziplinären Kompendien zum Thema "Raum", die in den letzten Jahren von Seiten der neu formierten Raumwissenschaften vorgelegt wurden. [1] Das zweibändige Werk "Architekturwissen" geht von einem als sozial gedachten Raum aus, zu dem Grundlagentexte präsentiert werden. Nach dem ersten, 2011 erschienenen Band zur Ästhetik [2] legt dasselbe Autorenteam nun den letzten, etwas umfangreicheren Teil vor.

"Architekturwissen" meint keineswegs das unverzichtbare, zur Ausübung einer Profession notwendige geistige Rüstzeug, wie es gängige Studienbücher für Bachelor-Fächer vermitteln wollen. Hier wird ein von Foucault geprägter Begriff von Wissen formuliert, das seinen Gegenständen nicht nur distanziert gegenübersteht, sondern sie mit erzeugt (11). Die 38 Quellentexte aus dem 20. und 21. Jahrhundert sind "mit dem Architekturdiskurs in irgendeiner Form verbunden" (12), entstammen aber nur zum kleinsten Teil der eigentlichen Architekturtheorie. Die meisten sind der Philosophie (12 Texte von Michel Foucault, Gilles Deleuze und anderen) und der Soziologie (12 Texte etwa von Pierre Bourdieu und Dirk Baecker) zuzurechnen, ferner kommen Architektur und Architekturtheorie (7 Texte), Medienwissenschaften (5) sowie Geografie und Ethnologie zu Wort. Das gilt ähnlich für die Herausgeber, die aus Kultur- und Sprachwissenschaften, Medientheorie und Architektur kommen und an der Universität der Künste Berlin in der Architekturausbildung tätig sind. Aus einem dortigen Projekt ging diese Anthologie hervor, deren Ziel in der aus dem ersten Band wiederholten Gesamteinleitung formuliert ist: "der Fixierung auf bestimmte Texte entgegenzutreten", um den Architekturdiskurs zu öffnen und weitergehende Fragestellungen zu ermöglichen (12).

Die ideengeschichtlich fundierte Einleitung zum vorliegenden Band erläutert dann Intention und Gliederung. Der originell gewählte Titel "Logistik" zielt über die klassische technische Definition hinausgehend auf die "Theorie und Praxis der raumzeitlichen Organisation von Prozessen" der Kommunikation und Distribution und deren "technische, ökonomische und soziale Bedingungen" (17). Das schließt einerseits an jüngere kulturwissenschaftliche Fragestellungen der Diskursökonomie sowie Medien- und Verkehrsgeschichte an, umfasst aber auch Klassiker wie Heidegger oder Max Weber. Die Konzentration auf die westliche Hemisphäre bedauern die Herausgeber (12), sie ist angesichts der im Band allenthalben gegenwärtigen Globalisierung dennoch erstaunlich.

Von den sechs Kapiteln, denen die Quellentexte zugeordnet wurden, betreffen die ersten drei "sozialräumliche Ordnungen und ihre Stabilisierung" (21), nämlich "Orte und Identitäten", "Schwellen und Grenzen" sowie "Anordnungen und Verteilungen" (worin sich Machtstrukturen und Geschlechterrollen finden). In den folgenden drei geht es um die "sozialen und ökonomischen Austauschbeziehungen, in denen gebauter Raum produziert wird", und die dazu eingesetzten Organisationsformen (22): "Wege und Kanäle" inklusive Kommunikation, "Märkte, Eigentum und Verwertung" sowie "Handeln und Entwerfen". Jeweils sechs oder sieben Texte werden präsentiert, meist Auszüge aus den relevanten Hauptwerken, aber auch seltener zu lesende Vorträge. Darunter sind einige deutsche Erstveröffentlichungen in eigenen Übersetzungen (Doreen Massey, Ulla Terlinden, Neil Smith, Sharon Zukin sowie Rem Koolhaas' "Field Trip" zur Berliner Mauer). Merkwürdigerweise wurde die deutsche Version eines Textes von Pierre Bourdieu "in Absprache mit dem Übersetzer" überarbeitet, was nicht näher erläutert wird (207). Jeder Quelle folgen ein ausführlicher Textnachweis und eine biografische Notiz.

Die Einleitungen der sechs Kapitel fassen die zitierten Quellen zusammen und kommentieren sie, stellen sie in einen werkimmanenten und wissenschaftshistorischen Kontext und nennen weiterführende Literatur. Aus diesen Einblicken in die Fachdebatten der einzelnen Disziplinen entsteht so ein Panorama, das Detailblick und Übersicht gelungen vereint. Diese Texte könnten hier und da stärker strukturiert oder schärfer gefasst sein sowie kritischer mit den besprochenen Quellen umgehen. Die Autoren verzichten auf starke Thesen und referieren sachlich den Forschungsstand, manche Bewertung und Gewichtung mag man selbstverständlich anders vornehmen. Mit Blick auf Architekturgeschichte und -theorie, die ohnehin nur in kleinen Ausschnitten erwähnt werden, zeigen sich gewisse Schwächen (151: Intentionen der französischen Revolutionsarchitekten; 243: futuristische Wohnutopien der 60er-Jahre als Medieneffekt im Sinne McLuhans; 300-304: Gentrifizierung als rein anglo-amerikanische Problemstellung). Alle Einleitungen sind erfreulicherweise gut verständlich formuliert und höchst anregend, sie führen vor, wie in den Kulturwissenschaften über Architektur gedacht wird. Leider fehlen dem Band ein Register und ein Gesamtliteraturverzeichnis.

Praktiker der Architektur mögen Klassiker vermissen, wie im Kapitel "Orte und Identitäten" Aldo Rossi oder Christian Norberg-Schulz. Ohnehin fällt das vollständige Ausblenden aller postmodernen und dekonstruktivistischen Positionen in der Architekturtheorie auf. Selbst im letzten Kapitel "Handeln und Entwerfen" ist die Architektur lediglich mit Giancarlo de Carlo vertreten, Planungstheorie bleibt sonst außen vor, ebenso das in der industrialisierten Welt verbreitete Problem der "shrinking cities". [3] Das liegt gewiss nicht an mangelnder Kenntnis der Herausgeber, sondern entspricht ihrem bereits angesprochenen Ziel, einen Kanon aufzubrechen.

Es ist die Leistung des Buches, Schlüsseltexte der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Literatur der Moderne kompetent und anregend kommentiert zu präsentieren. Architektur zeigt sich jedoch nur insofern als "eine Integrationsdisziplin" (11), als sie von Denkern verschiedenster Disziplinen zum Gegenstand gemacht wird. Als Akteur bleibt sie in diesem Band eigenartig still.


Anmerkungen:

[1] Zuletzt Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt 2009.

[2] Susanne Hauser / Christa Kamleithner / Roland Meyer (Hgg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld 2011.

[3] http://www.shrinkingcities.com (2002-2008); Harry Richardson (ed.): Shrinking Cities. A Global Perspective, London / New York 2014.

Marcus Frings