Rezension über:

Alan V. Murray (ed.): The North-Eastern Frontiers of Medieval Europe. The Expansion of Latin Christendom in the Baltic Lands (= The Expansion of Latin Europe, 1000-1500; Vol. 4), Aldershot: Ashgate 2014, XLIX + 389 S., ISBN 978-1-4094-3680-5, GBP 110,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Madlena Mahling
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Madlena Mahling: Rezension von: Alan V. Murray (ed.): The North-Eastern Frontiers of Medieval Europe. The Expansion of Latin Christendom in the Baltic Lands, Aldershot: Ashgate 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/26310.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Alan V. Murray (ed.): The North-Eastern Frontiers of Medieval Europe

Textgröße: A A A

Das Wissen über den "Aufstieg des Westens" [1] in der mittelalterlichen Welt in einer breiten Perspektive darzustellen ist das Ziel der seit 2007 bei Ashgate erscheinenden Reihe "The Expansion of Latin Europe 1000-1500". Dabei geht es nicht um in sich konsistente, abgeschlossene Darstellungen, sondern um einen Überblick über die Forschungslage. Infolgedessen werden in den einzelnen Bänden bereits andernorts erschienene Aufsätze verschiedener Wissenschaftler neu herausgegeben. Die Erörterung des Themenkomplexes wird innerhalb der Reihe auf drei Sektionen verteilt. Die erste Abteilung thematisiert die Ausbreitung religiöser, politischer und sozioökonomischer Inhalte und Strukturen in Europa. Die zweite und dritte Abteilung behandeln die Interaktionen mit Kulturen und Regionen außerhalb des lateinisch-christlichen Europa - der muslimischen Welt, dem orthodoxen Europa und Asien.

Das jüngste, 2014 von Alan V. Murray herausgegebene Werk der bislang 13-bändigen Reihe thematisiert das nordöstliche "Grenzland", d.h. Preußen, Litauen, Livland und Finnland. Ein Ungleichgewicht besteht dabei in der Konzentration der Beiträge auf das mittelalterliche Livland. Elf der insgesamt 19 Beiträge widmen sich ganz oder teilweise dieser Region (Nrn. 1, 4-5, 9-11, 14-16, 18-19). Nur 3 bzw. 4 Beiträge behandeln Finnland und Preußen. Litauen ist mit nur einem Aufsatz vertreten. Fraglich ist, warum die strukturell ähnlichen ostelbischen Gebiete und Pommern nicht in den Band einbezogen wurden.

In den einzelnen Beiträgen wird die "Grenzsituation" des nordöstlichen Europa vor allem auf den Gegensatz zwischen den bis dahin weitestgehend heidnischen baltischen und finnougrischen Stammesverbänden und den christlichen, politisch und ökonomisch komplexer organisierten deutschen, dänischen und schwedischen Invasoren bezogen. Hauptgegenstand ist somit die Ordens-, Missions- und Kreuzzugsgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts (Nr. 1-12, 17, 18, 19). Dies zeigt bereits die Verteilung der Beiträge auf die fünf Sektionen des Bandes, wobei auch die beiden Aufsätze der ersten Abteilung historiographiegeschichtliche Abhandlungen zur Kreuzzugs- und Missionsthematik liefern: 1. Historiographical approaches (2 Beiträge); 2. Crusade, conquest and conversion (6 Beiträge); 3. State formation (4 Beiträge); 4. Population and society (5 Beiträge); 5. Economy (2 Beiträge). Fragen nach den interethnischen und interkulturellen Grenzen in den vorhergehenden und nachfolgenden Jahrhunderten werden nicht bzw. nur in wenigen Beiträgen thematisiert (Nummern 13, 15-17, 19). Nicht behandelt wird auch die während des gesamten Mittelalters bestehende Grenzsituation zu den östlichen Nachbarn, den russisch-orthodoxen Fürstentümern.

Zu dem Band beigetragen haben Wissenschaftler aus dem anglo-amerikanischen Raum, aus dem Baltikum, Deutschland, Polen, Skandinavien und Ungarn. Vornehmlich ist die ältere und mittlere Generation vertreten. Mit Reinhard Wenskus wird nur ein deutscher Historiker eingebunden (Nr. 17). Zeitgenössische Vertreter der bedeutenden deutschen Preußen- und Baltikumsforschung fehlen gänzlich. Ebenso werden keine russischen und weißrussischen Wissenschaftler einbezogen. Zum Tragen kommt dabei wohl der Umstand, dass sich das Werk an einen englischsprachigen Leserkreis richtet und mit zwei Ausnahmen (Nr. 5, 17) nur ursprünglich englischsprachige Titel wiedergegeben werden.

In großen Teilen ist der Band von Bemühungen zur Bestimmung der Rolle einzelner Ethnien in der Region und zur Überwindung nationalgeschichtlicher Konzepte geprägt. Bereits die historiographiegeschichtlichen Beiträge von Sven Ekdahl und Derek Fewster machen die starken und teilweise immer noch präsenten nationalen Denkkategorien in den einzelnen Geschichtswissenschaften deutlich (Nummern 1, 2). Philipp Line wiederlegt finnisch-nationale Vorstellungen, indem er von einer schwach organisierten prähistorischen finnischen Stammesgesellschaft und einer "eher durch Einfluss denn durch Zwang" erfolgten Christianisierung ausgeht (82). Ebenso konstatiert Mark Lamberg, dass die Finnen im Mittelalter keineswegs "Objekte ethnischer Diskriminierung" und rechtlich benachteiligt gewesen seien (249). Tiina Kala kommt in ihrer Untersuchung zur sprachlichen Situation im mittelalterlichen Tallinn zu dem Schluss, dass reale Barrieren und eine Segregation der Sprachen erst zur Zeit der Reformation entstanden (Nr. 16). Der bereits in den 1920er/1930er Jahren nationalistisch aufgeladenen Frage nach dem Ursprung der livländischen Städte wendet sich Enn Tarvel zu (Nr. 14). Reinhard Wenskus richtet sich in seinem Beitrag gegen Traditionen der polnischen Romantik, denen zufolge der Deutsche Orden während des Mittelalters einen "ständigen Albtraum" der polnischen Bevölkerung dargestellt und einen "Genozid" an den Prussen begangen habe. (307 f.). Karol Górski gibt in seinem Aufsatz der Hoffnung Ausdruck, dass deutsche und polnische Historiker auf der Grundlage sozialgeschichtlicher Fragestellungen bezüglich des Deutschen Ordens eine Annäherung erreichen können (229 u. 246). Im Gegensatz hierzu steht einer der beiden Beiträge von Ēvalds Mugurēvičs, der davon ausgeht, dass die "Aggression" des Deutschen Ordens den "natürlichen Prozess der Ausbildung der lokalen Kultur unterbrochen und enorme materielle Schäden verursacht" habe (275).

Grundsätzlich weist der Band die Stärken und Schwächen auf, die auch andere Bände dieser Reihe charakterisieren.[2] Einerseits werden an einem Ort grundlegende Aufsätze zum politischen und kulturellen Wandel im mittelalterlichen Nordosteuropa im Hoch- und Spätmittelalter zusammengefasst, was einen einfachen Einstieg in die Thematik ermöglicht. Andererseits weist die Auswahl Ungleichgewichte auf. Ebenso ist fraglich, ob der teure Neuabdruck bereits publizierter Aufsätze im Zeitalter fortschreitender digitaler Verfügbarkeit von wissenschaftlichen Publikationen notwendig und gerechtfertigt ist. Diese Frage stellt sich auch, wenn man die zahlreichen in den zurückliegenden Jahrzehnten erschienenen Monografien und Sammelbände zu Kreuzzugsthematik und Europäisierung des Ostseeraums in Betracht zieht (siehe eine Übersicht im Beitrag von Sven Ekdahl S. 2 mit Anmerkung 3-11).


Anmerkungen:

[1] http://www.ashgate.com/default.aspx?page=5097&series_id=392&calcTitle=1, Zugriff 9.3.2015.

[2] Daniel König, Rezension von: Eleanor A. Congdon (ed.): Latin Expansion in the Medieval Western Mediterranean (= The Expansion of Latin Europe, 1000-1500; Vol. 7), Aldershot: Ashgate 2013, http://www.sehepunkte.de/2014/02/24038.html, 9.3.2015; Juliane Schiel, Rezension von: James D. Ryan (ed.): The Spiritual Expansion of Medieval Latin Christendom. The Asian Missions (= The Expansion of Latin Europe, 1000-1500; Vol. 11), Aldershot: Ashgate 2013, http://www.sehepunkte.de/2014/03/24218.html, 9.3.2015.

Madlena Mahling