Rezension über:

Josef van Ess: Im Halbschatten. Der Orientalist Hellmut Ritter (1892-1971) (= Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Wiesbaden: Harrassowitz 2013, XI + 257 S., ISBN 978-3-447-10029-8, EUR 49,00
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Rezension von:
Stephan Conermann
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Tilmann Kulke
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Josef van Ess: Im Halbschatten. Der Orientalist Hellmut Ritter (1892-1971), Wiesbaden: Harrassowitz 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/26705.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 15 (2015), Nr. 1

Josef van Ess: Im Halbschatten

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Heute, im Jahre 2015, scheinen wir nach mehr als einem Jahrzehnt fürchterlicher Reformen im Zuge des Bolognaprozesses unglaublich weit weg von dem Geist des Magisterstudiums und noch viel weiter weg von der Ära der Ordinarienuniversität zu sein. Zumindest bei uns in Bonn gibt kein wirkliches Bewusstsein unter den Studierenden und auch nicht unter den Mitarbeiter/inne/n der Islamwissenschaft für die Geschichte des Faches und die herausragenden Leistungen einzelner Gelehrter. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der Professor von heute auch gar nicht den altehrwürdigen Typus des Gelehrten verkörpern kann. Vielmehr muss, wer überleben oder berufen werden will, eher ein Macher, Drittmitteleinwerber und Manager mit Führungsqualitäten sein, der 80% seiner Zeit in Sitzungen verbringt. Wer die großartig recherchierte Biographie liest, die Josef van Ess (geb. 1934) über Hellmut Ritter (1892-1971) geschrieben hat, wird auf jeden Fall das Gefühl nicht los, dass Ritter - obgleich menschlich anscheinend nicht immer sehr einfach - ein großer Gelehrter gewesen ist.

Die detailreiche Studie ist chronologisch aufgebaut. Hier die Eckdaten seines keineswegs geradlinigen und durch persönliche Umstände wie auch durch die schwierigen Zeitläufte geprägten Lebenswegs: Nach einem Studium von 1910 bis 1913 bei Carl Brockelmann (1868-1956) und Paul Kahle (1875-1964) in Halle und Theodor Nöldeke (1836-1930) und Enno Littmann (1875-1958) in Straßburg wurde Ritter wissenschaftlicher "Hilfsarbeiter" am Kolonialinstitut in Hamburg. Er gab gleichzeitig Unterricht am Seminar für Geschichte und Kultur des Orients unter Carl Heinrich Beckers (1876-1933) Leitung, dann wechselte er mit Becker [als Nachfolger von Eugen Prym (1843-1913)] nach Bonn. 1914 erfolgte ebendort die Promotion zum Thema "Ein arabisches Handbuch der Handelswissenschaft".[1] Die mündliche Prüfung legte er im gleichen Jahr ab, bevor er dann in den Krieg ziehen musste. Von 1914 bis 1918 fungierte Ritter als Dolmetscher für Arabisch, Türkisch und Persisch bei deutschen Truppenverbänden im Irak und in Palästina. Zum 1. März 1919 wurde er nach dem Weggang von Rudolf Tschudi (1884-1960) auf eine Professur an der Universität Hamburg berufen. 1925: Anklage und Verurteilung wegen Homosexualität, am 31. März 1926 Entlassung. Ritter siedelte in die Türkei über, um dort eine Zweigstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft aufzubauen und den Bestand an Manuskripten in den türkischen Bibliotheken durchzusehen. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, konnte er - Ironie der Geschichte - nur aufgrund einer Intervention von Paul Kahle (1975-1964) weiter offiziell in Istanbul arbeiten. Im gleichen Jahr beschloss Atatürk die Gründung einer modernen Universität am Bosporus. 1935 erhielt Ritter dort ein Lektorat für Arabisch und Persisch. 1937 kam es zur Einrichtung eines Orient-Instituts an dieser Hochschule und Ritter wurde zum ersten Direktor ernannt. Als die Universität 1948 ein größeres Maß an Autonomie erhielt, entließ man den aus Deutschland stammenden Professor. 1949 erhielt Ritter ein Extraordinariat an der Universität Frankfurt, 1953 wurde er zum Ordinarius. Aus persönlichen Gründen und aufgrund interner Querelen verließ er 1956 kurz vor seiner Emeritierung die Universität und kehrte nach Istanbul zurück. 1960 hatte er eine Gastprofessur an der American University in Beirut inne. Aus Krankheitsgründen begab er sich Mitte der 1960er Jahre nach Oberursel, wo er 1971 verstarb.

Hellmut Ritters Gelehrsamkeit spiegelt sich aber natürlich weniger in seiner Persönlichkeit noch in seinem Werdegang, sondern - gemäß dem Motto "der Mensch ist nichts, das Werk ist alles", wie es bis in die jüngste Gegenwart in unseren Berufungskommissionen zu hören war - in erster Linie in seiner wissenschaftlichen Arbeit wider. Josef van Ess gibt uns hierzu in seiner Biographie einen ausgezeichneten Überblick. Gleichzeitig führt er den Leser kundig und unter Heranziehung aller erreichbaren Quellen in die jeweilige Entstehungsgeschichte ein und weist ihn - mit überzeugenden Argumenten - auf die stupenden philologischen Leistungen Ritters hin. Man muss sich einige Arbeiten noch einmal vor Augen führen, um seine erstaunliche Schaffenskraft würdigen zu können: "Über die Bildersprache Niẓāmīs" (Berlin, Leipzig: de Gruyter, 1927), al-Ġazzālīs "Elixir der Glückseligkeit" (Jena: Diederichs, 1923), al-Ašʿarīs "Maqālāt al-islāmīyīn wa-'ḫtilāf al-muṣallīn" [2. Aufl. Wiesbaden: Steiner (in Komm.), 1963], an-Naubaḫtīs "Die Sekten der Schiʿa" [Istanbul: Staatsdr, Leipzig: Brockhaus (in Komm.), 1931], Farīd-ad-Dīn ʿAṭṭārs "Ilāhı-nāmā" (Leipzig: Brockhaus, 1940), ʿAbd-al-Qāhir al-Ğurğānīs "Kitāb Asrār al-balāġa" (Istānbūl: Maṭbaʿat Wizārat al-Maʿārif, 1954) und die Übersetzung des Werks ("Die Geheimnisse der Wortkunst." Wiesbaden: Steiner, 1959) sowie "Das Meer der Seele: Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farīduddīn ʿAṭṭār" (Leiden: Brill, 1955).

Hellmut Ritter war ein Philologe im besten Sinn, der noch in allen drei klassischen Islamsprachen (Arabisch, Persisch, Türkisch) gleichermaßen beheimatet war. Er beherrschte das Handwerk der Philologie wie kaum jemand vor und wohl auch wie kaum jemand nach ihm, wobei ihm auch unterschiedliche Textsorten und Gattungen keinerlei Probleme bereiteten. Ritter verkörpert, darin kann man van Ess nur recht geben, eine Forscherpersönlichkeit, deren wissenschaftliche Produktivität sich weitgehend auf intuitive Neugier und auf solitärer Forschung gründete, die sich vor allem für die Entfaltung von Gedankengängen die notwenige Zeit nahm. Er steht damit letztlich tatsächlich für eine Form der Orientalistik/Islamwissenschaft, die mit der Entstehung der Massenuniversitäten im Zuge der 1968er Bewegung ein Ende fand, obgleich ihr Geist noch weit in die 1980er Jahre hineinreichte. Als ich zum Wintersemester 1985/86 in Kiel anfing zu studieren, hatte man gerade - horribile dictu - die Zwischenprüfung eingeführt. Auch den Magister gab es schon, obgleich man natürlich noch immer - wie es damals hieß - "grundständig" promoviert werden konnte. Das Fach hieß nicht Islamwissenschaft, sondern Orientalische Philologie, weil zum einen Sprachen wie Aramäisch, Syrisch und Hebräisch oder Özbekisch und Awestisch nicht vom Studium ausgeschlossen werden sollten und man sich zum anderen methodisch eindeutig in der Philologie verorteten wollte. In Oberseminaren wurden unter professoraler Anleitung Originaltexte gelesen, in der Regel in handschriftlicher Fassung. Das Ende des Studiums konnte man nicht selbst festlegen, sondern der Professor entschied, wann man die dafür nötige Reife erlangt hatte. Vor diesem Hintergrund habe ich mich bei der Lektüre des Buches immer wieder gefragt, wo ich selbst eigentlich stehe. Ich denke, wir 50jährigen sind eine Scharniergeneration. Wir haben noch einen Hauch der alten Welt der Universität mitbekommen, die allerletzten Regungen sozusagen, bevor der Reformorkan, der bis heute mit unverminderter Heftigkeit bläst, beinahe alle Strukturen von damals hinweggefegt hat. Mein Lehrer hießen Heribert Busse (geb. 1926) und Ulrich Haarmann (1942-1999), Assistenten ihrerseits von Bertold Spuler (1911-1990) und Hans-Robert Römer (1915-1997), die in der Nachkriegszeit die deutsche Orientalistik, jeder auf seine Weise, mit prägten. Neben der als unerlässlich angesehenen forscherischen Einsamkeit waren die Philologie und die historisch-kritische Methode die Grundlagen, auf denen, darüber waren sich alle einig, die Orientalistik als Textwissenschaft basierte, Voraussetzung für alles Weitere sozusagen. Für diese Tradition war man, nebenbei bemerkt, in der Welt berühmt. Momentan ist die Situation der Disziplin sehr komplex, um nicht zu sagen vollkommen unübersichtlich, keiner weiß so recht, wohin die Reise gehen soll. Man wird sehen müssen. Auf alle Fälle scheint es mir dringend angebracht, sich seiner Wurzeln wieder etwas mehr zu erinnern. Dafür sensibilisiert einen die hier von Josef van Ess vorgelegte Biographie von Hellmut Ritter. Wir stehen alle auf den Schultern von Riesen. Das Buch sollte daher - zusammen mit den in den letzten Jahren vorgelegten guten Fachübersichten [2] - eine Pflichtlektüre für Erstsemester sein!


Anmerkungen:

[1] Die (umgearbeitete) Arbeit erschien erst 1917 im Druck [in: Der Islam 7 (1917), 1-97].

[2] Ludmilla Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden 2003; Sabine Mangold: Eine "weltbürgerliche Wissenschaft". Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004; Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin / New York 2005; Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 1933-1945, Edingen-Neckarshausen 2006; Ursula Wokoeck: German Orientalism: The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945. London 2009 und Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire - Religion, Race, and Scholarship. New York 2009.

Stephan Conermann