KOMMENTAR ZU

Christofer Herrmann: Rezension von: Christian Nille: Mittelalterliche Sakralarchitektur interpretieren. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/01/23987.html


Von Christian Nille, Mainz

Läse jemand sowohl mein Buch Mittelalterliche Sakralarchitektur interpretieren. Eine Einführung als auch Christofer Herrmanns Rezension dazu, so könnte er viel lernen. Bieten Rezensionen doch die wunderbare Möglichkeit, die eigene Leseerfahrung mit einer anderen zu vergleichen und sie dadurch zu differenzieren. Leider steht zu befürchten, dass, aufgrund der (Über-)Fülle des Büchermarktes, Rezensionen eher als praktisches Mittel verwendet werden, um zu entscheiden, ob man einen längeren Text überhaupt lesen soll. Daher und aufgrund wissenschaftlicher Redlichkeit sehe ich es als meine Pflicht an, einige Verwirrungen und Fehler in der Rezension Herrmanns herauszustellen und zu korrigieren. Das Hauptziel besteht darin, die Diskussion zurück auf eine wissenschaftlich-rationale Ebene zu führen.

a) Unklarheiten
Insgesamt fällt auf, dass in Herrmanns Text vielfältige Unklarheiten bestehen. Sei es bei einzelnen Begriffen oder bei Argumenten, man weiß oft nicht, was gemeint oder wie der Gedankengang beschaffen ist. Dies beugt zwar dem Umstand vor, etwas Falsches zu sagen, erschwert aber zugleich die Diskussion ungemein. Daher müssen diese Unklarheiten zunächst beseitigt werden, um dann auf die fraglichen Punkte eingehen zu können; dies wird vor allem in den Punkten d und e geschehen.

b) Forschungsstand
Eine wesentliche Basisinformation findet sich in Herrmanns Rezension überhaupt nicht, nämlich die "Lokalisierung der Publikation in dem zugehörigen (weiteren/engeren) Forschungsfeld" beziehungsweise die "Abgrenzung zu bereits vorliegenden Publikationen" [1]. Ohne diese Informationen ist es unmöglich, den Wert des Textes und die Probleme, denen er sich stellt, zu ermessen, bedeutet es doch einen erheblichen Unterschied, ob man auf viele gute Publikationen zu einem Thema zurückgreifen kann, die dann für eine Einführung allein zusammengefasst werden müssen, oder ob man zugleich noch einen Großteil der Forschungsarbeit leisten muss, da nur wenige Arbeiten und meist nur zu angrenzenden Themen vorliegen. Letzteres ist beim in Frage stehenden Buch der Fall, was entsprechende Auswirkungen auf die Anlage und Ausrichtung des Textes hat (siehe 10-12).

c) Erwartungshorizont
Um etwas bewerten zu können, ist es notwendig den Erwartungshorizont anzugeben, unter dem die Bewertung stattfindet. Dies tut Herrmann in dankenswerter Deutlichkeit: "Der Konsument erwartet aufgrund der Aufmachung, nach zwei Lesestunden alles Wesentliche zum Thema zu wissen und damit auch eine Prüfung bestehen zu können" (Absatz 1). Vermag das Buch diese Erwartung zu erfüllen, dann fällt die Bewertung positiv aus, bei Nichterfüllung hingegen negativ. Hierzu drei Korrekturen:

Erstens scheint es äußerst fraglich, den Erwartungshorizont eines Buches über dessen Aufmachung (genannt werden etwa: "stempelartiges Icon" und "knapper Umfang") zu bestimmen, da man so über grobe Assoziationen nicht hinausgelangt - wenn der Gesprächspartner eine Brille trägt, erwartet man ja auch nicht zwangsläufig ein intelligentes Gespräch. Viel einfacher und präziser ist es, auf die Angaben im Buch zu verweisen, die die Ziele des Buches und damit den Erwartungshorizont deutlich vorgeben (siehe http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?id=4215325&prov=M&dok_var=1&dok_ext=htm und 12).

Ein Vergleich von Herrmanns Aufmachungs-Erwartungshorizont mit jenem im Buch formulierten zeigt, dass sich beides grundlegend unterscheidet. Das heißt, dass im Buch völlig andere Ziele verfolgt werden, als sie Herrmann herausstellt und als Kriterien für die Bewertung des Buches anlegt. (Aus der differenzierten Aufschlüsselung sei nur ein Punkt aus dem Klappentext herausgegriffen: "Der Band bietet eine Fülle praktischer Anregungen zur eigenständigen Beschäftigung mit der mittelalterlichen Baukunst und stellt dafür das benötigte Instrumentarium bereit"). Somit brechen Herrmanns Ausführungen grundsätzlich zusammen, da sie einfach das Thema verfehlen - als würde man einem Architekten vorwerfen, dass er keine Malereien herstellt.

Prüft man drittens Herrmanns Erwartungshorizont, so dürften dessen Mängel schnell klar werden. Rund 150 Seiten in zwei Stunden lesen zu können, ist selbst bei einer flüchtigen Lektüre unrealistisch. Was das "Wesentliche zum Thema" bedeuten soll, bleibt schleierhaft. Und selbst wenn es gelänge, sich in zwei Stunden Wissen anzueignen, um eine entsprechende Prüfung bestehen zu können, würfe dies ein schlechtes Licht auf gängige Lehrveranstaltungen, deren Besuch deutlich mehr Zeit beansprucht. Andere Erwartungen erfüllen zu wollen, als sie Hermann ausgibt, ist also durchaus angebracht.

d) Auswahl - Wesentlich - Erfahrung
Sehr richtig weist Herrmann auf einen weiteren Punkt hin: "Von zentraler Bedeutung ist natürlich die richtige und ausgewogene Auswahl der Interpretationsansätze und Autoren, denn der studentische Leser soll schließlich einen Überblick zu allen wesentlichen Interpretationsansätzen erhalten, die die deutsche Architekturgeschichte seit dem 19. Jahrhundert hervorgebracht hat" (Absatz 2). Eine Vielzahl der folgenden Beanstandungen geht hierauf zurück, in dem Sinne, dass man dieses oder jenen doch hätte (ausführlicher oder gar nicht) behandeln müssen (etwa: Kimpel/Suckale, Dethard von Winterfeld, Wilhelm Pinder). Dies gipfelt in der abschließenden Empfehlung an den Verlag, sich zu überlegen, "ob für derartige Themen nicht doch erfahrenere Wissenschaftler engagiert werden sollten, denen nicht nach der Hälfte des Manuskripts die Recherchekondition ausgeht" (Absatz 8).

In die Form eines Arguments gebracht, bedeutet dies Folgendes: Erstens kommt der Auswahl ein großes Gewicht zu, da man nicht alles behandeln kann. Zu behandeln ist zweitens allein das Wesentliche (hier: wesentliche Interpretationsansätze), das drittens nur dem Erfahrenen zugänglich ist. Dieses Argument hält keiner rationalen Prüfung stand. Zwar ist der erste Punkt richtig, jedoch ist bereits völlig unklar, was mit dem Wesentlichen gemeint oder wie es zu bestimmen ist. Anzugeben, dass die Erfahrung entsprechende Einsichten gewährt, ist nur hilfreich, um subjektiv Vorlieben durchzusetzen. Denn man hat nach dieser Logik immer Recht, solange man nur über mehr Erfahrung verfügt als der andere, das heißt, das (Dienst)Alter entscheidet. Was geschieht aber, wenn zwei oder noch mehr Personen über dieselbe Erfahrung verfügen, aber Verschiedenes für wesentlich halten? Dieser Fall dürfte nach Herrmann nicht vorkommen. Auch ist zu bedenken, dass Erfahrung nicht allein positiv anzusehen ist, denn mit ihr gehen Gewohnheiten einher und man kann sich durchaus an Falsches gewöhnen, das dann nur sehr schwer wieder loszuwerden ist.

Meine Lösung für das Auswahlproblem bestand und besteht darin, zunächst das Problem ganz klar zu benennen und dann objektive - das heißt nachprüfbare und kritisierbare - Auswahlkriterien anzugeben. Das erste Kriterium ist die "Wirkung der einzelnen Arbeiten" und das zweite der "Grad an Deutlichkeit, in dem dort ein bestimmtes Modell zu finden ist" (11).

e) Übernahmen Ein weiterer Problemkreis ergibt sich, indem Herrmann verschiedene Übernahmen kritisiert. So heißt es: "Um den vorhandenen Platz zu füllen folgt nun ein Text zur Ikonik, der mit Architekturinterpretation nicht das Geringste zu tun hat" (Absatz 6). Warum also das Eingehen auf Max Imdahls Auseinandersetzungen mit mittelalterlichen Miniaturen, wenn es doch um Architektur geht?

In gesteigerter Form begegnet das Problem bei der Behandlung des Kapitels Mittelalterliche Sakralarchitektur und Ritual wieder. Es verwundert Herrmann, dass hier soziologische Interpretationsmodelle berücksichtigt werden. Er bemängelt "unerträgliche Soziologenphrasen", bei denen sich "vollkommen unverständliche Sätze mit erbärmlich banalen Aussagen abwechseln". Als Bekräftigung führt er einen Satz an, der dies "selbst zugibt": "Sie [das heißt: die soziologischen Interpretationsmodelle; C.N.] beschäftigen sich weder mit dem Mittelalter noch mit der Sakralarchitektur". Leider zitiert Herrmann nur den halben Satz, so dass die Erklärung für dieses Vorgehen unbenannt bleibt: "[…], bieten aber weitreichende und voll entfaltete Modelle an, derer man sich gewinnbringend bedienen kann; so wie Warnke den Begriff des Anspruchsniveaus übernommen hat" (Absatz 5; 106).

Das Problem scheint folgendes zu sein: Herrmanns Aufmachungs-Erwartungshorizont verlangt nach einem "Überblick zu allen wesentlichen Interpretationsansätzen […], die die deutsche Architekturgeschichte seit dem 19. Jahrhundert hervorgebracht hat" (siehe c, d). Daher ist es klar, dass Übernahmen aus anderen Gattungen (Miniaturen) oder gar anderen Disziplinen (Soziologie) irritieren müssen, sofern sie nicht Teil der Geschichte der Architekturinterpretation sind. Geht man jedoch von den im Buch verfolgten Zielen aus, etwa dem Leser das benötigte Instrumentarium zu bieten, um sich eigenständig mit der mittelalterlichen Baukunst beschäftigen zu können, dann lässt sich viel von der Ikonik und raumsoziologischen Modellen lernen; zumal dieses Vorgehen, beispielsweise von Martin Warnke, äußerst erfolgreich praktiziert worden ist. Ich sehe jedenfalls keinen Grund dafür, eine solche Möglichkeit nicht zu ergreifen. In welcher Weise solche Übernahmen für die Interpretation mittelalterlicher Sakralarchitektur fruchtbar sind, wird eigens gezeigt (Raumsoziologie: 107-109, Ikonik: 112-116).

f) Schluss Aufgrund der gebotenen Kürze konnten einige Punkte, wie etwa das bloße Nennen von Namen und Arbeiten, der Konflikt zwischen Empirikern und Theoretikern, Lesepensum und Lesestrategien, vorgeschlagene Akzentverschiebungen oder die Relevanz einzelner Arbeiten, nicht besprochen werden. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Diskussion über ein faszinierendes Thema fortgesetzt wird, und zwar in einer klaren und rationalen Weise. Wenn es gelungen ist, hierfür einige Grundelemente zu liefern, wäre viel erreicht.


REPLIK

Von Christofer Herrmann

Die wichtigsten Kritikpunkte von Christian Nilles Replik auf meine Rezension sind, dass erstens die Erwartungshaltung des Rezensenten an die Publikation falsch gewesen sei und zweitens meine Argumente sich nicht auf einer wissenschaftlich-rationalen Ebene bewegen würden. Replik und Erwiderung können eine fruchtbare wissenschaftliche Diskussion anregen, wenn die Vorwürfe jedoch eher pauschaler Art sind, ist ein wirklicher Diskurs schwer zu führen. Es besteht die Gefahr, dass man von unterschiedlichen Standpunkten aus aneinander vorbeiredet.

Dennoch möchte ich versuchen, auf die wesentlichen Punkte des Disputs argumentativ zu reagieren. Die Frage der Erwartungshaltung ist sicherlich ausschlaggebend für die Entscheidung, ein Buch überhaupt zu bestellen und in die Hand zu nehmen. Diese Entscheidung fällt, bevor man anfängt den Text zu lesen, und ist in erster Linie abhängig von der im Titel genannten Thematik, dem Klappentext und der Textgattung. Zu einem schmalen Band einer Einführungsreihe, die der Herausgeber damit bewirbt, man wolle einer studentischen Leserschaft Grundwissen für ein spezielles Thema vermitteln, dürfte die große Mehrheit der potenziellen Leser genau die Erwartungshaltung haben, die der Rezension zugrunde liegt. Der Umschlagstext und die gesamte optische Aufmachung sind darauf abgestimmt, eine Leserschaft mit dieser Erwartung anzusprechen. So gesehen hat man als Rezensent (und Leser) das Recht, etwas Bestimmtes vom Inhalt des Buches zu erhoffen, nämlich eine systematische Vorstellung der verschiedenen Interpretationsansätze der deutschen Kunstgeschichte in den vergangenen 200 Jahren zum Thema der mittelalterlichen Sakralarchitektur (wie es der Klappentext und die Verlagsankündigungen suggerieren).

Der Autor verweist nun darauf, er habe im Vorwort die Spielregeln zum Teil verändert und eine ganz eigene (in seinem Sinne bessere) Konzeption für einen Einführungsband in die Tat umgesetzt. Demzufolge müsse auch der Rezensent nun seine Erwartungshaltung verändern und dürfe das Buch lediglich aus dem Denksystem des Autors heraus beurteilen. Dem kann ich jedoch nicht zustimmen. Wenn Rezensenten eine Publikation immer nur systemimmanent aus dem Autorenblickwinkel beurteilen dürften, könnte man auf Buchbesprechungen weitgehend verzichten. Jeder würde im abgegrenzten Bereich seines Theoriegartens verharren und grundsätzliche Dispute (über den Gartenzaun hinaus) fänden nicht mehr statt.

Nun wäre es selbstverständlich denkbar, dass die Herangehensweise von Nille sich als besser erweist als die übliche Machart von Einführungsbänden. Doch was ist das Andersartige, das der Autor als in der Rezension nicht gewürdigt beklagt? Er hat einerseits einige grundlegende Forschungsansätze nicht in den Band aufgenommen und dafür andererseits neue Theoriemodelle vorgestellt (z.B. die Raumsoziologie), die bislang nichts zur Interpretation mittelalterlicher Sakralarchitektur beigetragen haben, aber nach Meinung Nilles großes Potenzial dazu hätten. Dies böte die Möglichkeit, "praktischer Anregungen zur eigenständigen Beschäftigung mit der mittelalterlichen Baukunst". Der Rezensent hat dieses Ansinnen keineswegs übersehen, doch der Ansatz überzeugte mich leider nicht.

Bleiben wir der Kürze halber nur beim Beispiel der Soziologie. Dass es von der (Raum)Soziologie bisher keine Beiträge zum Thema der mittelalterlichen Sakralarchitektur gibt, dürfte kein Zufall sein. Soziologie ist die "Lehre vom Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft, von den Erscheinungsformen, Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlichen Lebens" (Definition nach Duden). Ohne ausreichende empirische Grundlagendaten kommt soziologische Forschung nicht aus, es sei denn man beschränkt sich auf die Konstruktion von großen Theorieszenarien und verzichtet auf den Nachweis der Gültigkeit durch die Empirie. Für eine Raumsoziologie (eigentlich müsste es die Lehre vom Zusammenleben der Menschen innerhalb von Räumen sein, da die Architektur selbst ja keine Interaktion betreibt) der mittelalterlichen Sakralarchitektur stehen fast keine empirische Daten zur Verfügung - aus meiner Sicht fehlen daher grundlegende Voraussetzungen, um mit soziologischen Instrumentarien Forschung zur mittelalterlichen Architektur zu betreiben. Es bliebe nur die Möglichkeit der Konstruktion abstrakter Theoriemodelle, was Nille offenbar besonders fasziniert. Ich gebe gerne zu, die Textseiten zur Soziologie eigentlich nicht verstanden zu haben. Für den Autor mag dies der Beweis verminderter intellektueller Fähigkeiten des Rezensenten sein, aus meiner Sicht werden hier kaum durchschaubare Satzungeheuer geschaffen, die sich durch ihre verworrene Struktur einer Nachprüfbarkeit durch die Empirie zu entziehen versuchen. Wenn dies die Zukunft architekturhistorischer Forschung wäre, dann brächen qualvolle Zeiten für kommende Studentengenerationen an. Doch möge jeder an dem Disput interessierte Leser durch das Studium der entsprechenden Seiten zu einem eigenen Urteil gelangen. Rezensent und Autor nehmen hier grundverschiedene Standpunkte ein, wobei Nille den Konflikt dadurch zu lösen versucht, indem er die Kriterien 'richtig' und 'falsch' einführt: Er hat die richtige und ich die falsche Sichtweise, woraus sich dann ergibt, dass Nille (aus seiner Sicht) "wissenschaftlich-rational" argumentiert und Herrmann eben nicht.

Die Konsequenz einer solchen Art der Auseinandersetzung ist der ideologische Kampf von unterschiedlichen 'Glaubensrichtungen' in der Wissenschaft. Dies hat es natürlich schon immer gegeben und wird auch so bleiben. Eine einheitliche Weltsicht aller Wissenschaftler ist unerreichbar und nicht erstrebenswert; es wäre das Ende grundlegender Diskussionen, eines der Antriebsmotoren der Wissenschaft. Es bleibt die Frage, wie man vernünftig mit diesem Problem umgehen sollte. In früheren Zeiten gehörten Polemiken zwischen Wissenschaftlern zum Tagesgeschäft. Heute kann man den Eindruck gewinnen, dass eine öffentliche Auseinandersetzung unerwünscht ist. Eine sachliche, aber harte Kritik wird häufig (gewöhnlich hinter vorgehaltener Hand) mit dem Vorwurf gekontert, dies wäre ehrenrührig für den Kritisierten und könne Karrieren vernichten. Lieber solle man friedlich seinen eigenen Wissenschaftsacker bestellen, so wie die Kollegen auf den benachbarten Grundstücken auch. Es bleibt allerdings die Frage, ob eine solche 'friedliche Koexistenz' dem wissenschaftlichen Fortschritt wirklich dienlich ist.

Auf die Hauptkritikpunkte meiner Rezension geht der Autor übrigens nicht ein. Es wurden von mir vor allem zwei Dinge bemängelt: Erstens hat Nille zentrale Ansätze der Forschungsgeschichte (etwa Liturgiewissenschaft, völkische oder marxistische Interpretationsmodelle) gar nicht oder völlig unzureichend berücksichtigt. Eine gewisse Vollständigkeit der vorgestellten Theorieansätze darf man bei einer angekündigten systematischen Darstellung von 200 Jahren Theoriegeschichte aber erwarten. Dies auch aus praktischen Gründen, denn Studenten wird häufig Literatur in die Hände fallen, die im Geist nationalistischer oder marxistischer Denkgebäude verfasst wurden. Es wäre einem Einführungsband durchaus angemessen, wenn sich dort Abschnitte finden, die dem Leser Anregungen zum Verständnis und zum Umgang mit Texten solcher Interpretationsansätze bieten könnten. Zweitens hat der Autor bei einigen der Kapitel (insbesondere zu empirisch orientierten Forschungsmethoden) in der zweiten Buchhälfte viele der wichtigsten Publikationen nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt und offenbar auch nicht gelesen, so dass seine Darstellung gerade auch im Vergleich mit der von mir ausdrücklich gelobten ersten Hälfte des Buches sehr oberflächlich wirkt. Das Schweigen des Autors zu diesen Mängeln versteht der Rezensent als Bestätigung seiner Kritik.