Rezension über:

Peer Vries: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit (= Schriftenreihe der FRIAS School of History; Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 541 S., 13 Grafiken, 55 Tabellen, ISBN 978-3-525-31047-2, EUR 69,99
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Rezension von:
Werner Stangl
Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Werner Stangl: Rezension von: Peer Vries: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/24403.html


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Peer Vries: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums

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Das hier besprochene, umfangreiche Werk ist die deutsche Ausgabe einer auf Englisch verfassten und ebenfalls 2013 erschienenen Monographie. Peer Vries beschäftigt sich seit bald zwei Jahrzehnten mit dem Phänomen, das seit dem Jahr 2000 meist mit dem von Pomeranz geprägten Schlagwort der Great Divergence bezeichnet wird. Er hat sich dabei vielfach sehr streitbar in die Debatte eingebracht und gilt als Kritiker nicht nur der Weltsystemtheorie um Wallerstein und Braudel, sondern auch der Gruppe um Kenneth Pomeranz oder André Gunder Frank, die für eine starke Ablehnung von Ansätzen eines europäischen Exzeptionalismus sowie eine Hervorhebung von Ähnlichkeiten zwischen Europa und Asien bis zum Jahr 1800 bekannt ist. Für sie hat Vries selbst den Begriff der "kalifornischen Schule" geprägt.

Man kann das hier besprochene Buch im Licht dieses traditionellen Antagonismus sehen - Vries nennt den letzten Teil seines Buches nicht von ungefähr "Warum nicht China? Eine Welt überraschender Unterschiede". In seiner Darstellung waren England und andere europäische Nationen im gesamten 18. Jahrhundert deutlich besser aufgestellt als China, um die "malthusianischen Schranken" zu überwinden, also ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu generieren, das nicht vom Bevölkerungszuwachs und begrenztem Raum aufgefressen wird. Das große Auseinanderklaffen hat für ihn tiefe Wurzeln und ist kein spontanes Geschehen, das unmittelbar bei der Industrialisierung Englands beginnt.

Vries' "Eurozentrismus" kommt nicht plump daher, im Sinn eines kulturellen oder geographischen Exzeptionalismus. Er sucht die Ursprünge des Vorsprungs, den "der Westen" vor allem im 19. Jahrhundert erreichte, weder im ersten Roggenkorn noch in irgendeiner Eigenart des Christentums, sondern in einem Gemenge von interdependenten Faktoren wie Bevölkerungsentwicklung, Außenhandel, Merkantilismus oder Kultur und Geographie.

"Es wäre schön, wenn es so einfach wäre" (S. 356) - mit diesem Kernsatz quittiert er die Narrative vieler Institutionalisten und Neoklassiker, für die letztlich der Schutz von Eigentumsrechten und offene Märkte hinreichende Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg von Gesellschaften sind. Der Satz charakterisiert aber auch seine Einstellung zu vielen anderen populären, monokausalen Erklärungsansätzen (Diamond, Morris, Ferguson usw.) gut, mit denen er sich explizit auseinandersetzt. Mit klassischen Modernisierungstheorien oder Stufenmodellen hat seine Sicht wenig zu tun. Er erkennt zudem keine europäischen "Killerapplikationen" (Ferguson), die das moderne Wirtschaftswachstum unausweichlich gemacht hätten, und auch Europas "zerklüftete Landschaft" (Morris) reichen ihm zur Erklärung kaum aus.

Vries betont die große Bedeutung des Staats und dessen aktive Rolle. Anhand etlicher Beispiele zeigt er, wie protektionistische und merkantilistische Maßnahmen gerade im Fall Englands zu positiven Weichenstellungen führten, obwohl "kein zurechnungsfähiger Ökonom" diesen "als wirtschaftlich rationales Verhalten" bezeichnen könne (409). Er erkennt die historische Tatsache an, dass eine Nation, umgeben von merkantilistischen Konkurrenten, selbst (erfolgreicher) merkantilistisch agieren musste. "Ob sich die ökonomische Entwicklung ohne sie [merkantilistische Maßnahmen] schneller vollzogen hätte, werden wir nie wissen" (409).

Das vorliegende Buch gerät kaum in die Gefahr, einseitig zu werden - Vries ist wenig geneigt, bestimmten Faktoren (Bevölkerungsentwicklung, Faktorenausstattung, Schutz von Eigentumsrechten, Geographie usw.) in jeder historischen Situation und für jede Art von Problemlage dieselben Effekte zuzuschreiben. Sehr positiv auffallend ist das Aufgreifen ökonomischer Theorie verbunden mit einer historischen Sichtweise auf das Geschehen, die sonst viel zu selten ist - Historikern fehlt zu oft das grundlegende Verständnis ökonomischer Modelle, und Ökonomen tendieren generell zu einem viel zu statischen Geschichtsverständnis. Ebenfalls hinzuzufügen ist dem Lob die Fähigkeit von Vries, den Ergebnissen anderer - auch jener, die er kritisiert - mit großer Offenheit zu begegnen und in seine Argumentation miteinzubeziehen. So hält er trotz seiner fundamentalen Kritik an der "kalifornischen Schule" den Gutteil von deren Revisionismus hinsichtlich der angenommenen "Rückständigkeit" und "Despotie" der großen asiatischen Reiche und ihrer Wirtschaft (z.B. im Bereich Kapital) für gültig. Er weigert sich lediglich, daraus eine "Welt von Ähnlichkeiten" abzuleiten, in der modernes Wachstum mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit im China der Qing Zeit hätte eintreten können wie in England.

Das Buch ist in vier grundlegende Abschnitte geteilt. In der Einleitung, die immerhin über 80 Seiten stark ist, gibt Vries den notwendigen Kontext der Debatte wieder, stellt methodische Probleme dar und argumentiert die Auswahl seiner Fallbeispiele. Er arbeitet hier vielfach mit hoch aggregierten Makrodaten (besonders jenen von Maddison), die er jedoch, weil ihre Aussagekraft natürlich begrenzt ist, nicht überstrapaziert. Sie dienen ihm vielmehr als Sprungbrett, um grundlegende Leitlinien in der Fragestellung (wie das Verhältnis der malthusianischen Schranken oder der Industriellen Revolution zum modernen Wachstum) zu umreißen.

Im ersten eigentlichen Teil bespricht Vries eine Anzahl von Faktoren (Geographie, die verschiedenen Produktionsfaktoren, Handel, Institutionen, Kultur), die allgemein als Ursachen für die Great Divergence diskutiert werden, und legt seine Sicht auf deren Bedeutung im Gesamtgefüge dar. Im zweiten, mit über 250 Seiten umfangreichsten Teil konkretisiert er seine Überlegungen aus dem ersten Teil anhand von 30 Beispielen und historischen Vergleichen, die in gleicher Abfolge wie im ersten Teil abgearbeitet werden. Hier wird deutlich, dass das Werk nicht nur England und China in den Blick nimmt, sondern der Zusatz "und die Welt" nicht umsonst Teil des Untertitels ist. England und China wird zwar aufgrund der Forschungsschwerpunkte des Autors eine privilegierte Position eingeräumt, allerdings beschäftigen sich zahlreiche Kapitel auch mit ganz anderen Regionen. Zu nennen wäre hier zum Beispiel die divergierenden Entwicklungen in Anglo- und Lateinamerika. Im abschließenden Teil entwickelt er aus diesen Darstellungen heraus seine Sicht einer "Welt überraschender Unterschiede", die erklären sollen, warum letztendlich England und nicht China der logische Kandidat für die Entstehung modernen Wachstums war.

In einem Punkt muss man, damit auch kritische Wörter hier Platz finden, das bisher Gesagte relativieren. Vries hat in seiner Darstellung zwar keine rote Peitschenschnur, die den Leser unter beständigen Hieben auf eine bestimmte Sichtweise trimmt, doch lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass für ihn schließlich doch die "Kultur" den grundlegendsten, wenn auch nicht den unmittelbarsten oder gar einen konkret operationalisierbaren Teil der Erklärung bildet. Er macht keinen Hehl daraus, dass für ihn Max Weber Ausgangspunkt und Maßstab in der Betrachtung des Verhältnisses von Kultur und Wirtschaft bildet, sondern kritisiert zurecht, man solle Weber nicht durch die "ständigen Verweise" auf die Protestantismus-These verkürzen. Auf der gleichen Seite konstatiert er aber selbst, dass der Protestantismus sich in puncto Disziplinierung und Arbeitsethik "recht konkret und direkt auf die Ökonomie" ausgewirkt habe. (423) Umfangmäßig liegt kein besonderes Gewicht auf diesem Aspekt, jedoch bilden sicher nicht zufällig die Kapitel zur Kultur den jeweiligen Abschluss der inhaltlichen Teile, jeweils nach dem Abschnitt über Institutionen. Vries gibt dabei mehrfach den expliziten Hinweis, dass Institutionen (denen er insgesamt - wenn auch stark abweichend von "neoliberalen" Positionen - sehr hohe Bedeutung zumisst) in einer starken Abhängigkeit zu einem dahinter liegenden kulturellen Gefüge stehen, das Gesellschaften durchzieht (z.B. 472). Ich stimme ihm zwar dahingehend zu, dass die Rolle der Kultur nicht so ausdrücklich ausgeklammert werden sollte, wie es "Institutionalisten" oder "Geographen" tun, dennoch ist der Versuch, Kultur in die Darstellung (die insgesamt der Operationalisierbarkeit, sowie den konkreten historischen Umständen einen hohen Stellenwert einräumt) zu integrieren, meiner Meinung nach nicht gänzlich gelungen: Sie bleibt als unbestimmte Fußnote stehen, bietet sich aber gleichzeitig als tiefster Grund an.

Diese Position ist legitim, wird aber unzweifelhaft nicht allgemein geteilt werden. Man muss jedoch gar nicht mit jeder einzelnen Ansicht übereinstimmen, um im vorliegenden Buch eine der differenziertesten, lesbarsten und facettenreichsten historischen Arbeiten zu sehen, die zu dem Thema existieren. Künftige Arbeiten, ob von der Position ähnlich oder antagonistisch, werden gut beraten sein, die hier präsentierten Argumente und die thematisch breite Konzeption des Werkes aufzugreifen. Vries nimmt insgesamt stärkeren Bezug auf ökonomische Theorien als es viele andere Wirtschaftshistoriker tun, bleibt dabei aber unverkennbar Historiker. Die Akzeptanz der Singularität historischen Geschehens behält die Oberhand über eine modellhafte Sichtweise auf die Geschichte, die bei vielen Ökonomen leider oft zu finden ist. Es steht zu hoffen, dass dieses Buch eine große Breitenwirkung entfalten wird.

Werner Stangl