Rezension über:

Petra Rentrop: Tatorte der "Endlösung". Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez (= Dokumente, Texte, Materialien; Bd. 80), Berlin: Metropol 2011, 256 S., ISBN 978-3-86331-038-7, EUR 22,00
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Rezension von:
Lars Jockheck
Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Lars Jockheck: Rezension von: Petra Rentrop: Tatorte der "Endlösung". Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez, Berlin: Metropol 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/23805.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Petra Rentrop: Tatorte der "Endlösung"

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Die 2010 von Petra Rentrop an der TU Berlin eingereichte, von Wolfgang Benz betreute Dissertation untersucht zwei wichtige, bislang noch nicht in den Gesamtzusammenhang des nationalsozialistischen Völkermords eingeordnete Haft- und Vernichtungsstätten: das im Juli 1941 kurz nach der deutschen Besetzung geschaffene Ghetto in der weißrussischen Hauptstadt Minsk und das nahe gelegene, vermutlich ab April 1942 eingerichtete Lager im Dorf Maly Trostinez (weißrussisch Maly Tras'cjanec). Dort wurden bis zur Befreiung Anfang Juli 1944 rund 60 000 Menschen ermordet, davon mehr als die Hälfte Juden. Etwa zwei Drittel der jüdischen Opfer waren aus Österreich, Tschechien und Deutschland nach Weißrussland deportiert worden.

Rentrops zentrales Anliegen ist es, die Ermordung der Juden an beiden Tatorten zu untersuchen "im Spannungsfeld zwischen dem Planungshorizont der NS-Führungsriege und den Intentionen regionaler wie lokaler Funktionäre von Zivilverwaltung, SS und Polizei" (9). Daneben gilt ihre Aufmerksamkeit auch dem Alltag der in und bei Minsk eingesperrten Juden. Sie kann sich dabei auf eine umfangreiche Literatur zur Verschleppung, Inhaftierung und Ermordung der Juden, zum deutschen Besatzungsregime in Weißrussland, zu Tätern, Opfern und Widerstand stützen. Darüber hinaus hat Rentrop auch zahlreiche Archivalien ausgewertet, darunter die nur bruchstückhaft überlieferten Bestände der deutschen Zivilverwaltung sowie der SS und Polizei, ergänzend deutsche, österreichische und sowjetische Ermittlungs- und Prozessakten und schließlich als weitere wichtige Quellengattung veröffentlichte wie unveröffentlichte Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge.

Nach zwei einleitenden, literaturbasierten Kapiteln zur NS-"Judenpolitik" bis ins erste Kriegsjahr sowie zum Zusammenhang des Überfalls auf die Sowjetunion mit der "Endlösung der Judenfrage" analysiert Rentrop in vier weiteren Kapiteln den Beginn der Judenverfolgung in Minsk, die Geschichte des Ghettos von Minsk, die Situation deutscher Juden im Ghetto und die Geschichte der Lager und Vernichtungsstätte Maly Trostinez.

Rentrop geht davon aus, dass die allgemein gehaltenen Befehle der NS-Führung, wer in den eroberten Gebieten der Sowjetunion zu inhaftieren und wer zu exekutieren sei, in Minsk wie andernorts von den lokalen Vertretern der Wehrmacht, SS und Polizei in eigener Initiative ausgestaltet wurden. Den widerstreitenden Erklärungen, ob die frühe Einrichtung eines Ghettos in Minsk vor allem aus materiellen Gründen - wie Wohnungs-, Nahrungs- und Arbeitskräftemangel - oder in erster Linie aufgrund von rassistisch motiviertem Sicherheitsdenken erfolgte, fügt Rentrop einen weiteren Grund hinzu: Das Ghetto habe nämlich als Sammellager für jüdische Flüchtlinge aus dem Westen, eventuell auch für Juden aus dem Umland von Minsk dienen sollen.

Abgesehen von den lokalen Initiativen sieht Rentrop Himmlers Besuch in Minsk am 14. und 15. August 1941 als wesentlichen Grund an, warum Minsk zu einem Schauplatz der Experimente mit Massentötungsverfahren wurde. Von anfangs 50 000 bis 60 000 Insassen des Ghettos Minsk überlebten etwa 20 000 das erste halbe Jahr bis Ende 1941 nicht. Außer den Mordaktionen von SS und Polizei forderten unzureichende Ernährung, harte Arbeit und Seuchen zahlreiche Opfer.

Für 7 000 im Herbst 1941 aus Deutschland und Österreich nach Minsk deportierte Juden waren die Chancen auf Überleben und Widerstand in der fremden Umgebung noch geringer als für die einheimischen Ghetto-Insassen. Die "reichsdeutschen" Juden wurden innerhalb des Ghettos in noch einmal umzäunte "Sonderghettos" gesperrt, wo sie den Platz zuvor ermordeter einheimischer Juden einnahmen. Spätestens im Juli 1942, als bei einer weiteren Massenmordaktion neben 6500 weißrussischen auch 3500 deutsche Juden starben, musste den Überlebenden klar sein, dass ihnen das gleiche Schicksal bevorstand. Nur knapp 50 kamen mit dem Leben davon.

Am 11. Mai 1942 ermordeten Sicherheitspolizei und SD erstmals in einem Wald bei Maly Trostinez knapp 1000 Juden. Aus dem Umstand, dass die Ermordeten kurz zuvor mit einem Deportationszug aus Wien angekommen waren, schließt Rentrop, dass die Einrichtung eines Arbeitslagers in Maly Trostinez in unmittelbarem Zusammenhang mit den wieder aufgenommenen Deportationen nach Minsk stand. Die örtliche deutsche Zivilverwaltung wehrte sich gegen die Aufnahme weiterer Juden und verwies auf die katastrophalen Zustände im Ghetto Minsk. Daraufhin, so Rentrop, habe die SS-Führung im Reich beschlossen, die deportierten Juden statt ins Ghetto ganz in die Hand von Sicherheitspolizei und SD zu geben. Hierfür entstanden ein Arbeitslager und eine Vernichtungsstätte auf der ehemaligen Kolchose Maly Trostinez - wegen deren günstiger Lage, denn sie war durch den angrenzenden Wald schlecht einsehbar und mit der Bahn leicht zu erreichen. Mehr als 15 000 österreichische, tschechische und deutsche Juden gelangten im Sommer 1942 nach Minsk und wurden zum Großteil noch am Tag ihrer Ankunft ermordet: erschossen oder in LKWs (Gaswagen) vergast. Anfangs mussten einige Hundert Juden im Lager Maly Trostinez Zwangsarbeiten verrichten, im Sommer 1944 waren es kaum noch 100. Nur rund 20 österreichischen, tschechischen und deutschen Juden gelang es, durch Flucht zu überleben.

Rentrop zeigt in ihrer überzeugend argumentierenden Studie, wie sich die Massenmorde an Juden in Minsk, die anfangs in lokaler Auslegung zentraler Befehle erfolgten, erst nach Entscheidungen auf Reichsebene vom November 1941 an auf die systematische Vernichtung aller Juden, auch der Frauen und Kinder, ausweiteten. Ebenso war die Errichtung der Vernichtungsstätte Maly Trostinez bei Minsk Folge von Beschlüssen der SS-Führung im Reich. Für die Entschlossenheit, mit der an diesem Ort gemordet wurde, macht Rentrop jedoch den lokalen Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD, Eduard Strauch, verantwortlich, da dieser den Massenmord an den Juden aus Karrieregründen wie aus Überzeugung vollzogen habe. Dass Maly Trostinez dennoch auf einer "Zwischenstufe zwischen Massenvernichtungsstätte und Vernichtungslager" (233) stehen blieb, sei vermutlich eine Folge des sich ausbreitenden Partisanenkriegs gewesen.

Lars Jockheck