Rezension über:

Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, München: Wilhelm Fink 2011, 396 S., 186 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-5043-2, EUR 64,00
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Rezension von:
Miriam Volmert
Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Miriam Volmert: Rezension von: Tanja Michalsky: Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei, München: Wilhelm Fink 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/20560.html


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Tanja Michalsky: Projektion und Imagination

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Pieter Bruegels bekannte Federzeichnung Maler und Kunstfreund (1565, Wien, Albertina) regt den Bildbetrachter dazu an, über die geistigen Prozesse des Schaffens und Wahrnehmens von Kunst zu reflektieren. Zum einen geschieht dies über die Gegenüberstellung von zwei augenscheinlich ganz unterschiedlichen Blickweisen auf Kunst - des starr und konzentriert schauenden Malers und des eher angeregt dreinblickenden Kunstkenners, der ihm mit leichtem Lächeln über die Schulter sieht. Zum anderen aber auch, indem das Objekt dieses Schauens, die Leinwand des Künstlers, dem externen Bildbetrachter verborgen bleibt - es sind allein die beiden Figuren vor dem Kunstwerk, die den Bildraum der Zeichnung ausfüllen. Umso stärker wird an die Fantasie des externen Bildbetrachters appelliert, der am Bildrand noch eben sichtbaren erhobenen Pinselhand des Malers imaginativ nachzufolgen und zugleich in der erneuten Betrachtung seines vertieften Gesichtsausdrucks die mentalen Vorgänge des Schaffensprozesses thematisiert zu sehen. Geht man davon aus, dass es sich dabei um ein Selbstporträt des Landschaftsmalers Bruegel handelt, ist es nicht zuletzt auch der ästhetische Status von Landschaftskunst, der hier verhandelt wird.

Mit dieser Bildinterpretation führt Tanja Michalsky in ihrer Studie "Projektion und Imagination. Die niederländische Landschaft der Frühen Neuzeit im Diskurs von Geographie und Malerei", die auf einer an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf verfassten Habilitationsschrift basiert, gleich zu Beginn pointiert in ihr zentrales Forschungsanliegen ein: Es geht um frühneuzeitliche mediale Konzeptualisierungen von Landschaft, Natur und kosmischen Zusammenhängen, die Michalsky in einer breit angelegten Analyse kartografisch-kosmografischer Werke einerseits und künstlerischer Werke andererseits rekonstruiert. In ihrer Auseinandersetzung mit dem intensiv beforschten Feld niederländischer Landschaftsmalerei und Kartografie wählt die Autorin eine Sichtweise, die das komplexe Verhältnis der beiden historischen Medien differenziert betrachtet und nicht als eine monolithische Einflussgeschichte auslotet. So werden die verschiedenen Erscheinungsformen von (geografischer) Projektion und (künstlerischer) Imagination in den zwei Hauptkapiteln der systematisierend angelegten Untersuchung als medial komplementäre Koordinaten eines komplexen Landschaftsdiskurses analysiert. Es gelingt Michalsky in dieser zweigeteilten Struktur, ihre an epistemologischen Aspekten interessierte Forschungsrichtung nicht zuletzt durch luzide Einzelanalysen im Auge zu behalten und sie zugleich an spezifische politische, ökonomische wie religiöse Bedeutungshorizonte von niederländischer Landschaft zu binden.

Bereits das der kurzen Einleitung folgende, einführende Kapitel II, "Land und Landschaft", verfolgt diese Perspektive. So werden Schlüsselkonzepte der (interdisziplinären) Landschaftstheorie - die in kunstwissenschaftlichen Landschaftsstudien nicht selten außer Acht gelassen werden - einführend diskutiert und auf die landes- und landschaftsspezifische Situation in den Niederlanden der Frühen Neuzeit bezogen, die von den intensiven politischen Auseinandersetzungen des 80-jährigen Krieges geprägt ist. Im folgenden ersten Hauptteil "Neue Koordinaten. Das Land zwischen Projektion und Perspektivierung" untersucht Michalsky die zentralen Funktions- und Sehweisen kartografischer, kosmografischer und topografischer Systeme speziell mit dem Blick auf die in ihnen jeweils eingeschriebenen Konzepte historischer und räumlicher Wissensvermittlung. Dass die Geschichte dieser Konzepte nicht als eine Iineare Entwicklung unter der modernen Prämisse zunehmender 'Exaktheit' zu denken ist, sondern in zahlreichen Kartenwerken vielmehr "Wissenszuwachs als Prozeß" (73) sichtbar wird, wird mit schlüssigen Einzelanalysen offengelegt. So demonstriert die Autorin etwa am Beispiel der um 1507 angefertigten Großen Weltkarte von Martin Waldseemüller, in welcher Weise politische Machtvorstellungen und wissenschaftliche Projektionen (in diesem Fall bezogen auf die zunehmende Erschließung des amerikanischen Kontinents, die sich in der Benennung Amerikas und dessen Trennung vom asiatischen Kontinent niederschlägt) den kartografischen Fokus in seinen jeweiligen Auslassungen einerseits und seinem Detailreichtum andererseits prägten. Als vielleicht markantestes Beispiel für die wachsende Wahrnehmung der Kartografie als "Zustandsbeschreibung des [...] angesammelten Wissens" (73) und die in diesem Prozess zunehmende Selbstreflexion des kartografischen Mediums erscheint die Welt unter der Narrenkappe: Diese um 1590 von einem anonymen Künstler angefertigte Darstellung zeigt die zu der Zeit bereits stark rezipierte Weltkarte des Antwerpener Kartografen Abraham Ortelius unter einer Narrenkappe, also just an der Stelle, wo das Gesicht des Narren zu erwarten wäre - was Michalsky überzeugend als eine frühe Medienkritik deutet, in der die Modalitäten und Grenzen kartografischen Wissens verhandelt werden.

Als notwendige Gegenseite zu der "Allgegenwart der Karten als Wissens- und Machtsymbol" (95) betrachtet Michalsky - auch in kritischer Distanzierung von dem von Svetlana Alpers auf die holländische Malerei angewandten Begriff der "Beschreibung" [1] - die Malerei als "eine Konkretisierung der Daten in ihrer sinnlichen Erscheinung" (95). Sie biete dem zeitgenössischen, mit den kartografischen Werken vertrauten Betrachter komplementäre Räume sinnlicher Materialität und atmosphärischer Kontingenz, die eine neue Form der individuelleren Landschaftserfahrung durch die Vermittlung "eines wahrscheinlichen Anblickes" (159) möglich machten. Diese Involvierung des Betrachters als ein zentrales Potenzial der Landschaftsmalerei beleuchtet die Autorin in ihren folgenden Kapiteln aus verschiedenen Blickrichtungen. Zunächst demonstriert sie in einem Abschnitt zum frühneuzeitlichen Perspektivdiskurs als einem "Komplement zur Entdeckung des kartographischen Gitternetzes" (20), dass die Landschaftsmalerei weniger die Erkenntnisse der Raumberechung als vielmehr die suggestiven Möglichkeiten der Farbperspektive auslotete. Das anschließende Kapitel widmet sich der Rolle von Kunsttheorie und Kunstmarkt für den Landschaftsdiskurs: Hier legt Michalsky in ihrer zusammenführenden Diskussion niederländischer Kunsttraktate das Bedeutungsspektrum offen, das der (Hintergrund-)Landschaft für die Strukturierung des narrativen Bildraumes und die rhetorisch motivierte Aktivierung des Kunstbetrachters zugesprochen wurde. Nicht zuletzt im Bezug auf Franciscus Junius' umfassende Erörterungen zur Bedeutung der Fantasie (die er mit zahlreichen landschaftlichen Beispielen unterlegt) bietet das Kapitel eine erhellende Analyse. Der im selben Kapitel erfolgende kurze Abschnitt zum Kunstmarkt bezieht sich im Wesentlichen auf ältere Forschungsergebnisse und hat insofern eher einen allgemeinen bzw. einführenden Charakter; er erklärt sich jedoch aus dem grundsätzlichen Anliegen der Studie, den frühneuzeitlichen niederländischen Landschaftsdiskurs in seiner kontextuellen Vielschichtigkeit innerhalb eines Kapitels stets von mehreren, komplementären Seiten aus offenzulegen.

Nach diesem theoretischen Scharnier folgt der dem Kartografieteil gegenüberstehende große Teil "Imaginationen. Themen und Deutungshorizonte der niederländischen Landschaftsmalerei". Er bezieht die Frage nach dem spezifischen Potenzial der Landschaftsmalerei anhand von chronologisch ausgerichteten Fallbeispielen auf die drei Themenkomplexe "Landschaft als Zeichen der göttlichen Schöpfung und Naturgebundenheit des Menschen, [...] Fiktion von Realismus im Modus naturgetreuer, mimetischer Darstellung, sowie [... die] Etablierung nationaler Topoi, die sich vom Fremden absetzen lassen" (20).

In ihren im Zentrum stehenden Analysen etwa der Jahreszeitendarstellungen Pieter Bruegels, der Haarlemer Grafiken von Claes Jansz. Visscher und der Brasilienbilder Frans Posts geht es der Autorin somit vorwiegend um landschaftsspezifische Darstellungsprobleme: Das Augenmerk gilt den zur Kartografie komplementären Bildstrategien der Landschaftsmalerei, über Inszenierungen von Wolken, Atmosphäre und Licht Zeitlichkeit im Bild sichtbar zu machen, historisches Wissen zu vermitteln und das (nationale) Land in seiner sinnlichen Erscheinung greifbar werden zu lassen. Wesentlich ist in diesem Kontext weniger die in der Diskussion der Bilder oftmals offengelegte Vieldeutigkeit der Bildthematik als die übergeordnete Frage nach der "Konzeptualisierung von Landschaft" (14), nach den Modalitäten des Sehens und Machens von Landschaft, wie sie im Medium des Gemäldes selbst verhandelt werden. Es sei an dieser Stelle vermerkt, dass generell - vor allem aber im Bezug auf die Diskussion wirkungsästhetischer Bildstrategien - eine bessere Abbildungsqualität im Anhang wünschenswert wäre.

Der Ausblick des Buches fällt etwas kurz aus, wobei eine entsprechende argumentative Blickschärfung häufig in den einzelnen Bildanalysen selbst vorgenommen wird. Gegebenenfalls hätte sich im Ausblick oder an anderer Stelle ein vergleichender Blick auf weitere zentrale Dimensionen des frühneuzeitlichen holländischen Landschaftsdiskurses gelohnt, etwa das im ersten Teil lediglich kurz angesprochene argumentative Konzept propagandistischer Landschaftsformeln. So wäre es beispielsweise interessant, die um 1600 populären Darstellungen des holländischen Gartens bzw. tuin als eines einprägsamen einheitsstiftenden Zeichens des nordniederländischen Aufstandsgebiets gerade im Vergleich zu den grenz- und geschichtsbildenden Formeln der Kartografie auf ihre bildeigenen Konzeptualisierungen von Land und Landschaft zu prüfen.

Das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen frühneuzeitlicher Landschaftsmalerei und Kartografie wird in Michalskys Studie anschaulich und klar strukturiert analysiert. Mit ihrer an epistemologischen Aspekten orientierten Blickrichtung knüpft sie zugleich an aktuelle Fragen der Niederlandeforschung an.


Anmerkung:

[1] Svetlana Alpers: The Art of Describing: Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago 1983.

Miriam Volmert