Rezension über:

Richard Mortimer: Guide to the Muniments of Westminster Abbey (= Westminster Abbey Record Series; Vol. VII), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2012, XIV + 125 S., ISBN 978-1-84383-743-5, GBP 25,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Richard Mortimer: Guide to the Muniments of Westminster Abbey, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 2 [15.02.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/02/22353.html


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Richard Mortimer: Guide to the Muniments of Westminster Abbey

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Herbert F. Westlake, Verfasser einer umfangreichen Geschichte von Westminster Abbey, bezeichnete im Jahr 1923 die Institution, der er als Archivar diente, nicht nur als "central shrine of the Empire", sondern verwies in spätviktorianisch-schwülstigem Duktus auch auf ihre enorme Symbolkraft: "Eyes to whom its intrinsic beauty means little may yet perceive the fact that the threads of all that is or has been best, most sacred, or most notable in the national life run somewhere through the woof of the fabric and its story." [1]

Der Kern der Aussage ist bis heute konsensfähig: Westminster Abbey spielte in der englischen Geschichte stets eine herausragende Rolle und darf als bedeutendste Kirche des Königreichs gelten.

Vom Hl. Dunstan im 10. Jahrhundert als Benediktinerabtei gegründet, 1222 der Jurisdiktion durch den Ortsbischof und den Erzbischof von Canterbury entzogen und als peculiaris ecclesia dem Papst direkt unterstellt, stieg Westminster Abbey bis zur Auflösung unter Heinrich VIII. 1540 zur reichsten monastischen Institution des Königreichs auf. Auch nach der Vertreibung der Mönche und der Gründung einer Kollegiatskirche, bestehend aus Dekan und zwölf Kanonikern, behielt sie ihr besonderes rechtliches Statut bei: bis heute zählt die Kollegiatskirche des Hl. Petrus - so der offizielle Titel - zu den sogenannten royal peculiars, einer kleinen Anzahl von Kirchen, die direkt der Königin und nicht der Jurisdiktion des Ortsbischofs unterstehen.

Das heutige Archiv von Westminster Abbey, dessen Ursprünge auf das 13. Jahrhundert zurückgehen, zählt zu den großen Privatarchiven Englands. Für die Forschung mehr oder weniger bequem zugänglich ist es allerdings erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seither sichtet eine angesichts der Bedeutung der Bestände erstaunlich überschaubare Anzahl von Wissenschaftlern das Material. Die Erschließung der "muniments" (die lateinische Etymologie verweist auf die ursprüngliche Funktion des Archivs: die Dokumentation von Rechtsansprüchen und Privilegien) erfolgte bisher über Findbücher vor Ort bzw. über gedruckte Inventare, deren Anzahl jedoch - vorsichtig formuliert - übersichtlich ist. L. E. Tanner hatte in seiner Funktion als zuständiger Archivar bereits 1936 eine knappe Einführung in die Bestände [2] und Barbara Harvey zuletzt einige maßgebliche Arbeiten zur mittelalterlichen Geschichte der Abtei, insbesondere zur Arbeitsweise der klösterlichen Amtsträger, veröffentlicht. [3] Daneben existieren einige Arbeiten, die sich mit speziellen Bestandsgruppen auch jüngeren Datums beschäftigen. Summa summarum: Eine neuere Überblicksdarstellung und Einführung war seit langem ein Desiderat. Richard Mortimer, von 1986 bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr keeper of the muniments legt nun diesen Überblick vor und führt auf 124 Seiten knapp, aber stets kompetent und mitunter erfrischend subjektiv in die Geschichte des Archivs, seine Struktur, die Bestände und deren Bedeutung ein.

Die fünf Kapitel behandeln die Archivgeschichte (I), die Bestandstypen (II), die durchnumerierten (alten) Serien (III), die modernen Serien (IV) und schließlich visuelle und akustische Quellen (V).

Hochinteressant sind Mortimers Ausführungen zur Archivgeschichte bzw. zur räumlichen Situation des Archivs selbst, befindet sich der Muniment Room doch auf einer Empore im südlichen Querschiff der Abteikirche. Seit über 700 Jahren wird das Archivmaterial dort unter klimatisch günstigen Bedingungen in z.T. originalen Truhen und Schränken aufbewahrt. Das Archiv blieb über Jahrhunderte hinweg mehr oder minder unbehelligt. Publikumsverkehr gab es im Grunde nur dann, wenn anlässlich von Krönungsfeierlichkeiten die Empore anderweitig genutzt wurde. Öffentliche Stellen zeigten sich ab Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend an den Beständen des Archivs von Westminster Abbey interessiert - die Kanoniker witterten dabei stets unangemessene Einmischung und behandelten die vielen Anfragen dilatorisch. Wenig schmeichelhaft sind in dieser Beziehung die Eintragungen im Tagebuch von Frederic Madden, Handschriftenkustos am British Museum, dem es 1862 gelungen war, Zutritt zum Archivraum zu erlangen. Den Aufbewahrungsort der Archivalien charakterisierte er als "the dirty hole, they (d.h. die Kanoniker) dignify by the title of 'Muniment Room'" (10). Bereits Richard Widmore, der 1732 mit der Ordnung der Urkunden beauftragt worden war, hatte auf Missstände aufmerksam gemacht. In einem Memorandum an das Kapitel artikulierte er seine Sorge um eine sichere Unterbringung der Dokumente: für Krönung und große Feierlichkeiten scheint ein Großteil der Truhen etc. wegbewegt worden zu sein und schlimmer - dem Publikum, das sich manchmal Stunden auf dieser Empore aufhalten musste und menschliche Bedürfnisse verspürte, blieb nichts anderes übrig, als sich vor Ort zu erleichtern. Widmore lässt keinen Zweifel daran, dass "some of the things in the great chests have suffered greatly, or been quite spoiled by urine, when persons have waited several hours to see some public procession [...]" (WAM 25105).

Allzu substantiell können die Schäden freilich nicht gewesen sein. Das Archiv präsentiert sich als "remarkably undisturbed" (4). Für die mittelalterliche Abtei gilt, dass die Verwaltung dezentral organisiert war und in der Hand klösterlicher Amtsträger, der sog. "obedientiaries" lag, die eigene Aufzeichnungen zumeist finanzieller Natur anlegten. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts wurde ein Exemplar der jeweiligen Jahresabrechnungen in einem zentralen Archiv (wohl der Muniment Room) deponiert; eine Kopie verblieb im Büro des jeweiligen Mönchs. Diese "perquos" genannten Zweitexemplare wurden 1536 ebenfalls in den Muniment Room überführt, so dass viele Jahresrechnungen in zweifacher, z.T. gar in dreifacher Ausfertigung erhalten geblieben sind. Die Kontinuität spiegelt sich auch im Bereich der Besitzurkunden wider. Als Institution konnte sich Westminster Abbey bis ins 19. Jahrhundert hinein an Einkünften aus Ländereien erfreuen, die teilweise seit dem 10. Jahrhundert in ihrem Besitz waren.

Erstaunlicherweise betreffen die größten Verluste an Archivmaterial die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts. Als 1941 eine deutsche Fliegerbombe das Chapter Office traf, wurde das dort befindliche Material, insbesondere die Dean's Files, in Mitleidenschaft gezogen. Doch egal, ob man sich für administrative, besitzrechtliche, liturgische, musikalische oder architektonische Fragestellungen interessiert: das Archiv von Westminster Abbey liefert dazu reiches, über Jahrhunderte kontinuierlich gesammeltes Material, das nicht nur die Abtei selbst, sondern mitunter auch Institutionen betrifft, die wie Hurley Priory oder die Londoner Kollegiatskirche St Martin le Grand von ihr abhängig waren.

Persönliche Aufzeichnungen der Deans, die im öffentlichen Leben eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten und noch immer spielen, wanderten zwar in den seltensten Fällen in das Archiv, doch ist noch immer genug an Informationen vorhanden, um biographische Abrisse von Gestalten wie Joseph Armitage Robinson (Dean von 1902-1911) substantiell zu unterfüttern. In der summarischen Auflistung von Bestands- und Signaturengruppen wird jedenfalls - zugegebenermaßen subjektiv - auf eine Fülle interessanter Sachverhalte hingewiesen, die sehr häufig bisher unbearbeitet geblieben sind.

Mortimers kurzer Überblick darf als gelungen gelten. Zu wünschen wäre, dass nicht nur der universitären Öffentlichkeit, sondern auch den für das Archiv Verantwortlichen, d.h. Dean und Chapter, der immense kulturhistorische Wert der Bestände einmal mehr vor Augen geführt wird. Das Interesse an ihnen dürfte in Zukunft noch wachsen. Soll man es bedauern, dass damit die beiden vorhandenen Arbeitsplätze wohl noch häufiger als bisher ausgebucht sein werden?


Anmerkungen:

[1] Herbert Francis Westlake: Westminster Abbey, 2 Bde., London 1923, hier Bd. 1, xviii.

[2] L. E. Tanner: The Nature and Use of the Westminster Abbey Muniments (=Transactions of the Royal Historical Society, 4th ser., 19), London 1936.

[3] Barbara Harvey: The Obedientiaries of Westminster Abbey and their Financial Records (=Westminster Abbey Record Series, 3), Woodbridge 2002.

Ralf Lützelschwab