Rezension über:

Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hgg.): Politische Verfolgung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1945 bis 1989. Wissenschaftliche Studien und persönliche Reflexionen zur Vergangenheitsklärung, Berlin: Metropol 2012, 460 S., ISBN 978-3-86331-047-9, EUR 29,00
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Rezension von:
Ilko-Sascha Kowalczuk
BStU, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Ilko-Sascha Kowalczuk: Rezension von: Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hgg.): Politische Verfolgung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1945 bis 1989. Wissenschaftliche Studien und persönliche Reflexionen zur Vergangenheitsklärung, Berlin: Metropol 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/21643.html


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Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hgg.): Politische Verfolgung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1945 bis 1989

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Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Universitäten und Hochschulen in der DDR hat sich in den letzten zwanzig Jahren als eine der produktivsten Teildisziplinen innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung etabliert. Anlässlich ihrer jüngsten Jubiläen legten etwa die Leipziger und die Berliner Humboldt-Universität mehrbändige, dickleibige Gesamtgeschichten vor, in denen auch die DDR-Phase Berücksichtigung findet. Aber gerade diese beiden Publikationen belegen auch, wie unterschiedlich die wissenschaftliche Beschäftigung bezogen auf die Episode der SED-Diktatur ausfällt. Eine Reihe offenkundig simpler Fragen der politischen Geschichte können noch immer nicht beantwortet werden: Wie viele politisch motivierte Exmatrikulationen, Aberkennungen von akademischen Graden, Entlassungen oder Verhaftungen gab es an den einzelnen Hochschulen? Aber zu einzelnen Einrichtungen liegen zumeist zur Phase bis 1961 detaillierte, sorgsam erarbeitete Analysen und Dokumentationen vor. In diesem Kontext nimmt die Universität Jena seit Anfang der 1990er Jahre eine besondere Stellung ein. Keine andere Universität in Ostdeutschland hat so konsequent, so kontinuierlich von den jeweiligen Universitätsleitungen gefordert, ihre Geschichte in der SED-Diktatur öffentlichkeitswirksam und wissenschaftlich zugleich erforschen zu lassen [1]. Über die Gründe, warum das an den einzelnen Hochschuleinrichtungen so unterschiedlich geschah, ist in den letzten Jahren vielfach diskutiert worden.

In dem vorzustellenden Sammelband greift Rainer Eckert in seinem resümierenden Beitrag über den Stand der Forschung solche Befunde auf. Er kann bibliographisch breit belegt zeigen, dass es zahlreiche Publikationen zur politisch motivierten Verfolgung an den ostdeutschen Hochschulen 1945 bis 1989 gibt. Aber auch er kommt zu dem Schluss, dass diese Arbeiten zu selten und zu wenig in übergeordneten Darstellungen zur Universitäts- und Hochschulgeschichte Berücksichtigung finden und - verbunden mit einem weitgehenden Desinteresse dieser Institutionen überhaupt an dieser Vergangenheit - eine Art Rand- oder Nischendasein fristen.

Die beiden Herausgeber des Bandes, Tobias Kaiser und Heinz Mestrup, gehören seit Jahren zu der thüringischen Gruppe Kultur- und Geisteswissenschaftler, die sich wissenschaftlich und sehr produktiv mit der jüngsten Vergangenheit Thüringens auseinandersetzen und ganz nebenbei belegen, dass es keine Rolle mehr spielt, wo jemand geboren und sozialisiert wurde. Beide Herausgeber leben en passant etwas vor, was sonst nur in Sonntagsreden gefordert wird: die deutsche Teilungsgeschichte als gesamtdeutsche zu begreifen und anzunehmen.

Ihr Sammelband geht auf eine Tagung zurück und stellt doch mehr als einen der üblichen Konferenzbände dar. Der Band gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste enthält sieben Beiträge, die resümierend darlegen, wie der allgemeine und bezogen auf ausgewählte Hochschulen spezielle Forschungsstand sich mittlerweile darstellt. Das ist als eine Ergänzung, ohne wirklich neue Erkenntnisse anbieten zu können, zu bereits vorliegenden Publikationen anzusehen. Dieser Abschnitt basiert überwiegend auf Veröffentlichungen, die die jeweiligen Autoren an anderen Orten bereits umfänglicher vorgelegt haben. Experten wird hier wenig Neues geboten, während diejenigen, die einen ersten Einstieg ins Thema suchen, hier sehr gut bedient werden.

Im zweiten Abschnitt erinnern sich fünf Zeitzeugen in zum Teil bewegenden Berichten an ihre Erfahrungen an der Universität Jena in den ersten Jahren nach Kriegsende 1945 und DDR-Gründung 1949. Im dritten Kapitel zu den 1950er Jahren und im vierten über die Zeit danach folgen insgesamt neun Erinnerungsberichte. Diese werden angereichert durch drei wissenschaftliche Fallstudien von Susanne Wildner, Katharina Lenski und Martin Morgner.

Der Band vermittelt eindringlich, wie sich die Formen von Opposition und Widerstand im Laufe der Jahrzehnte wandelten. Als Zäsur erscheint auch hier der Mauerbau, der nicht nur neue Formen von Anpassungs- und Oppositionsstrategien erforderte, sondern auch in den Verfolgungsmethoden von SED, MfS, Polizei, Justiz und nicht zuletzt der entsprechenden Universitätseinrichtungen Änderungen bewirkte. Eine Kontinuität lässt sich weder im parteistaatlichen Agieren noch im Widerstandsverhalten konstatieren.

Aus dem Umstand, dass der Band mehrheitlich von Zeitzeugenerinnerungen, die überwiegend reflektiert und abwägend sind, geprägt ist, bezieht er auch seine Kraft. Denn er stellt eine interessante Quelle für künftige Forschungen zu politischen Verfolgungen, zu persönlichen Wegen in die Opposition, zu alltags- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen dar. Zwar mag der Buchtitel auf die Universität Jena fokussieren, tatsächlich aber ist er nicht nur für an historischen Universitätsfragen Interessierte eine Fundgrube, sondern darüber hinaus auch als Quellenband für jene Forscher relevant, die über gesellschaftshistorische Probleme von Diktaturen arbeiten.

Kritisch ist lediglich anzumerken, dass die Anlage des Bandes es verhindert, die einzelnen Befunde in einen größeren zeithistorischen Kontext einzuordnen. Denn letztlich wird jede Diktaturgeschichte erst analytisch erklärbar, wenn nicht nur der Gesamtrahmen, sondern auch das gewöhnliche Umfeld von Opposition, Widerstand und politischer Verfolgung, nämlich die alltägliche Anpassung, das Mittun und Mitmachen konturiert wird. So bleibt unweigerlich eine Dichotomie zwischen Mitmachen und Aufbegehren einmal mehr unaufgelöst, die im Einzelfall gegeben gewesen sein mag, die aber das Gesamtsystem nicht hinreichend zu erklären vermag. Aber dies ist nicht diesem interessanten Buch anzulasten, sondern markiert eine Forschungskontroverse, die wohl so schnell nicht beendet sein wird.


Anmerkung:

[1] Von vielen Beispielen das wichtigste: Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hgg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945 - 1990), 2 Bände, Köln / Weimar / Wien 2007.

Ilko-Sascha Kowalczuk