Rezension über:

Juliane Schiel: Mongolensturm und Fall Konstantinopels. Dominikanische Erzählungen im diachronen Vergleich (= Europa im Mittelalter; Bd. 19), Berlin: Akademie Verlag 2011, 428 S., ISBN 978-3-05-005135-2, EUR 99,80
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Rezension von:
Karoline Döring
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Karoline Döring: Rezension von: Juliane Schiel: Mongolensturm und Fall Konstantinopels. Dominikanische Erzählungen im diachronen Vergleich, Berlin: Akademie Verlag 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/20532.html


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Juliane Schiel: Mongolensturm und Fall Konstantinopels

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"Es gibt keine Geschichte außerhalb ihrer Erzählung" (16), stellt Juliane Schiel bereits programmatisch am Beginn ihrer Studie fest. Die Mediävistin untersucht mit dem "Mongolensturm" (1241) und dem "Fall Konstantinopels" (1453) zwei gravierende Schockmomente der spätmittelalterlichen Geschichte und versucht, ihre jeweils spezifischen Diskursivierungen historisch-vergleichend zu erfassen. Es geht ihr konkret um die Frage, "wie aus den Nachrichten von der mongolischen Expansion und der osmanischen Eroberung Konstantinopels Ereignisse wurden" (17).

Der zeitlichen Diskrepanz der beiden Ereignisse und ihrer Erzählungen ist es geschuldet, dass die Verfasserin eine diachrone Perspektive auf ihren Untersuchungsgegenstand einnimmt. Verbindendes findet sie wiederum in der Institution des Dominikanerordens. Die Predigerbrüder waren eine in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft des Spätmittelalters verortete, analytisch gut fassbare Gruppe, die die Auseinandersetzung mit der Heterodoxie als Predigt- und Missionsauftrag wahrnahm und dabei ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit an verschieden Situationen bewies.

Schiel unterzieht dominikanische Erzählungen einer "dichten Lektüre" (35) und versucht, im Sinne einer "doppelten Hermeneutik" (16) möglichst genau ihren Standort im sozio-politischen und strukturellen Kontext, in dem sie entstanden sind, zu bestimmen, sowie die Handlungs- und Interpretationsspielräume ihrer Autoren aufzudecken, ohne diese rückwirkend und vom Ergebnis her zu interpretieren. Ihr methodischer Zugriff ist eine 'histoire croisée', die durch die (mehrfache) Kreuzung verschiedener Perspektiven einen "mehrdimensionalen Frageraum" (33) zu den historischen Ereignissen und ihren Erzählungen eröffnet, aus dem Schiel die Ebenen und Analysekategorien ihres Vergleichs herausarbeitet.

Die Arbeit, 2010 an der Berliner Humboldt-Universität als Dissertation angenommen, ist in drei große Abschnitte geteilt: Schiel betrachtet zunächst beide Ereignisse und ihre Erzählungen getrennt voneinander und stellt Fallbeispiele vor, in denen sie den Darstellungsprinzipien von Mongolen und Osmanen, der Interpretation und Deutung des Geschehens und seinem Stellenwert im Gesamtzusammenhang von Text und Werk des jeweiligen Autors nachgeht. Anschließend zieht sie einen systematischen Vergleich, um fallübergreifende, allgemeinere Aussagen zum dominikanischen Krisendiskurs und zur Krisenbewältigung im Spätmittelalter zu treffen.

Das Krisenmoment dient Schiel als tertium comparationis ihres Vergleichs. Ihre Arbeit leistet damit einen Beitrag zur historischen Krisenforschung. Doch nicht nur die spezifischen Narrativierungen und Interpretationen der beiden Schockmomente verfolgt Schiel, während sie "vom Geschehen zum Ereignis" (15) kommt, sondern sie zeigt auch die strukturellen Bedingungen für das Wirken der Predigerbrüder in verschiedenen geografischen Räumen auf (Heiliges Land, Ungarn, Schwarzmeerraum) und die Folgen, die die Erschütterungen durch Mongolen und Osmanen in diesen Kontaktzonen für das Selbstverständnis des Ordens hatten. Mit Bemerkungen zu "Binnendifferenzierungen auf synchroner Ebene" (19) in der Geschichte des Ordens, das heißt, zu Spannungsverhältnissen zwischen (Ordens-)Zentrum und Peripherie, zwischen Normen und ihrer praktischen Umsetzung über einen Zeitraum von rund 250 Jahren hinweg werden auch der Ordensforschung neue Impulse gegeben.

Nach einem gut informierten Überblick über den Forschungsstand (I, 11-36), der außerdem den erkenntnistheoretischen Rahmen der Arbeit absteckt, stehen zunächst insgesamt vier Autoren und ihre Erzählungen zum "Mongolensturm" (II, 37-152) im Mittelpunkt. Missionseifer und der "Traum von der großen Kirchenunion" (48), die "vollständige Christianisierung der Welt" (58) rührten am Grundverständnis des Predigerordens. Ob im Heiligen Land bei der Verständigung mit den Ostkirchen oder in Ungarn bei der Heidenmission, Dominikaner schrieben eine "Erfolgsgeschichte der Kirche" (50), in der die Mongolen einmal als Randfiguren, einmal als Geißel Gottes, ein andermal als Objekt eines klinischen Interesses auftauchten. An der heilsgeschichtlichen Relevanz des Volkes, wie Prediger und Missionare sie verbreiteten, zweifelte kaum jemand.

Ebenfalls vier Autoren kommen zum "Fall Konstantinopels" (III, 153-287) zu Wort. Der dominikanische Missionseifer des 13. Jahrhunderts ist nach 1453 vollständig einer um sich greifenden Endzeiterwartung und Endzeitangst gewichen. Das Auftauchen eines zerstörerischen, unbekannten, fremden Elements in der Geschichte wurde von den Historiografen als nahende Apokalypse gedeutet. Der "Fall Konstantinopels" ließ für die meisten eine "verkehrte Welt" (180) zurück: Der apokalyptische Drache Mehmed II. hatte triumphiert, statt niedergeworfen worden zu sein, osmanische Türken lebten gottesfürchtiger und vorbildlicher als alle Christen, das christliche Heer krankte an Kleinmut und mangelndem Gottvertrauen, während das gut organisierte Heer der Osmanen sich mit Kampfesmut und Glaubenseifer in den Krieg stürzte. Strategien der Bewältigung reichten von der Hoffnung auf Friedrich III. als Endzeitkaiser, der den Satan besiegen und das Reich Gottes einläuten werde, bis zu einer "fatalistischen Heilsgewissheit" (251), die nur in einer Umkehr und inneren Rüstung für die Endzeit Ausdruck finden konnte.

Diesen zeitgenössischen Blickwechseln stellt Schiel in ihrer vergleichenden Synthese (IV, 289-344) den Blick der Historikerin zur Seite: Drei "Perspektivkreuzungen" (36) erschließen weitere Vergleichsebenen und füllen den mehrdimensionalen Frageraum vom Konkreten der Textstudien und Kontexterzählungen zum Abstrakten der "Ereigniswerdung" (336) und zur Struktur und Transformation mittelalterlicher Krisendiskurse. Auf der Textebene präpariert Schiel die Analysekategorien (Wortfelder, Erzählstoffe, Deutungsmotive, Bewältigungsstrategien) heraus. Auf der Kontextebene setzt sie Autoren und Entstehungsbedingungen zueinander ins Verhältnis und erfasst die Verflechtungen zwischen den lokalen Machtstrukturen und den ortsansässigen Predigerkonventen, die Bedeutung der Augenzeugenschaft für das Geschilderte und die Abhängigkeiten zwischen der Biographie des Autors und seiner Erzählung. Auf der Ebene der Ereigniswerdung lässt sie die vorigen Ebenen zusammenfließen und klärt schließlich die "Dialektik von Erschütterung, Diskursivierung und Transformation", oder anders gesagt, "was die beiden Ereignisse tatsächlich verändert haben" (337).

Besonders hervorzuheben ist die kritische Edition und deutsche Übersetzung der Kreuzzugsrede des Genuesen Jacobus Campora an Kaiser Friedrich III. im Anhang (V, 345-372). Schiel macht damit nicht nur einen wenig beachteten Text zugänglich, sondern wirkt einer Forschungstendenz der letzten zwei Jahrzehnte entgegen, die sich verstärkt auf Humanisten als engagierte Türkenkriegspropagatoren konzentrierte. Die Rede steht stellvertretend für eine Vielzahl von Schriften, die die ungebrochene Deutungshoheit "alter Eliten" wie Theologen und Prediger im Umgang mit der osmanischen Bedrohung belegen.

Schiels 'histoire croisée' dominikanischer Erzählungen zum "Mongolensturm" und zum "Fall Konstantinopels" gewinnt den beiden sonst gut erforschten Themen neue Einsichten ab. Wie Schiel überzeugend darlegen konnte, erzählt die (dominikanische) Geschichtsschreibung die beiden Krisenmomente des Spätmittelalters in ähnlicher Weise - ein Befund, der nur auf Grund des "unverstellten" Blicks auf die historischen Ereignisse und ihre Erzählung erzielt werden konnte. Denn die Folgen von 1453 bewirkten, dass nur der "Fall Konstantinopels" zu einer epochalen Zäsur mutierte, nicht aber der "Mongolensturm", obwohl er im Moment des Geschehens von den Zeitgenossen ebenso traumatisch empfunden wurde. Gibt es sie also doch, die Geschichte außerhalb ihrer Erzählung?

Karoline Döring