Rezension über:

Eva Afuhs / Andreas Strobl (Hgg.): Hermann Obrist. Skulptur, Raum, Abstraktion um 1900, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2009, 247 S., ISBN 978-3-85881-239-1, EUR 49,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ole W. Fischer
University of Utah, Salt Lake City, UT
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Ole W. Fischer: Rezension von: Eva Afuhs / Andreas Strobl (Hgg.): Hermann Obrist. Skulptur, Raum, Abstraktion um 1900, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/16531.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Eva Afuhs / Andreas Strobl (Hgg.): Hermann Obrist

Textgröße: A A A

"[Kunst ist] die Suggerierung von gesteigertem Leben" [1]

Hermann Obrist (1862-1927) gilt als Begründer des Münchener Jugendstils: 1895 überraschte er das Publikum mit einem "Wandbehang mit Alpenveilchen", einer zum Peitschenhieb stilisierten goldenen Seiden-Stickerei auf Wollstoff, die heute in kaum einem Überblick zum Jugendstil fehlen darf. Doch der monografische Band zu dem gebürtigen Schweizer und Wahlmünchner, der als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Museum Bellerive Zürich (06.04.-07.07.2009) und der Pinakothek der Moderne München (16.07.-27.09.2009) diente, unternimmt eine alternative Annäherung an den Künstler: die fünf Textbeiträge, ergänzt um eine Einleitung der Herausgeber und den Wiederabdruck von Obrists autobiografischer Skizze "Ein glückliches Leben", legen den Schwerpunkt weniger auf die bekannten textilen Arbeiten, mit denen Obrist zwischen 1895 und 1900 reüssierte, als auf das plastisch-räumliche Werk sowie auf den künstlerischen Prozess, der anhand des umfangreichen (trotzdem fragmentarischen) Nachlasses beleuchtet wird. Denn für Buch (und Ausstellung) haben sich mit dem Museum für Gestaltung Zürich und der Staatlichen Graphischen Sammlung München die beiden Häuser zusammengetan, welche über die Skulpturen, Fotografien und den zeichnerischen Nachlass verfügen, der zum Teil jetzt erst kunsthistorisch erschlossen und aufgearbeitet wird. [2] Auch wenn der Anspruch der Verlagsankündigung zu einer "ersten Monografie" Obrists leicht übertrieben ist, denn seit 2001 liegt die monografische Studie von Dagmar Rinker vor [3], so bricht die sorgfältig gestaltete Publikation Bahn für die Obrist-Forschung und wirft einen frischen Blick auf die im Entstehen begriffene Moderne in Skulptur, Raum und Abstraktion um 1900, wie der Untertitel verspricht.

Denn Raumvorstellungen und Skulptur bilden die biografische Klammer für das Werk: Obrist, der eine konventionelle Schulbildung durch Selbststudium der Natur und Privatunterricht vermied, und eine konventionelle akademische Ausbildung durch den Umweg über das Studium der Medizin und Naturwissenschaft, eine Töpferausbildung, ein abgebrochenes Studium an der Kunstgewerbeschule Karlsruhe und ein ebenfalls vorzeitig beendetes Bildhauerstudium an der privaten Académie Julian in Paris unterlaufen hatte, beginnt seine künstlerische Karriere 1892 mit figürlichen Plastiken in Anlehnung an Rodin. Und nach 1900 liegt der Schwerpunkt seines Schaffens wiederum bei Brunnengestaltungen, Urnen und Grabmälern, die er basierend auf organischen oder kristallin-plastischen Prinzipien als Freiplastiken entwirft, welche Distanz zu historischen Stilen ebenso wie zur direkten Mimesis der Natur wahren. Nicht zuletzt stellt das späteste dokumentierte Werk und künstlerische "Vermächtnis" Obrists den Entwurf zu einer Bergkirche in deutlich organisch-expressionistischen, oder vielmehr erotisch-schwellenden, sexualisierten Formen dar: mit dem großformatigen Gipsmodell unterstrich er seinen Ruf eines "Architekturbildhauers", der zu einer Beteiligung an der "Ausstellung für unbekannte Architekten" des Berliner Arbeitsrates für Kunst 1919 führte. Dieses Schaffen parallel zur Natur bricht mit dem Eklektizismus des 19. Jahrhunderts, aber entgegen der älteren kunsthistorischen Lektüre kann man Obrist nur bedingt als Vorläufer der abstrakten und gegenstandslosen Kunst der klassischen Moderne einordnen, wie die Herausgeber in ihrem einleitenden Text betonen. Vielmehr stellt es die Evolution eines neuen Künstlertypus dar, bei dem sich verschiedenste Einflüsse aus Naturwissenschaft, Technik, Medien, Lebensreform und Weltanschauung (Monismus, Okkultismus, Vitalismus und Psychismus) zu einem Lebenswerk verdichten, für welches sich Obrist wiederum verschiedener Kanäle bediente: neben den erwähnten textilen und plastischen Arbeiten lassen sich sein als Gesamtkunstwerk gestaltetes Atelierhaus und die Mitbegründung der "Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk" in München, öffentliche Vorträge und Publikationen, Reformpädagogik (als Mitbegründer zusammen mit Wilhelm von Debschitz der "Lehr- und Versuchs-Ateliers für angewandte und freie Kunst" in München [4]) wie auch sein Interesse am Medium Fotografie aufzählen, die er als Inspirationsquelle ebenso wie zur Dokumentation seiner plastischen Arbeiten nutzte. Auf die "zentrale Frage der künstlerischen Entwicklung" Obrists alternativ zur Narration des "Vorläufers" der abstrakten Moderne (19) antworten die Herausgeber Afuhs und Strobel mit einer Aktualisierung seines Ansatzes im Zeichen zeitgenössischer Strömungen wie Biomorphismus oder Nature Design [4], (21) was auch Bezüge zur Auflösung der traditionellen Genres Architektur, Design und Plastik hin zur Archiskulptur herstellt. Unerwähnt bleiben andere zeitgenössische Ansätze wie das parametrische Entwerfen, das biologische Wachstums- und Evolutionsprozesse mit Computerprogrammen modelliert, und zu ähnlichen formal ungewöhnlichen, oft maßstabslosen selbstähnlichen Formen tendiert, wie sie Obrist analog entwickelt.

Annika Waenerberg bleibt ihren etablierten Themen treu [6], indem sie in ihrem Beitrag "Lebenskraft als Leitfaden" den geistesgeschichtlichen Horizont von Obrists Naturvorstellungen zwischen naturwissenschaftlicher Beobachtung und Widergabe innerer psychischer Erlebnisse ausbreitet, denn wenn man der durch Künstlerstilisierung gefärbten autobiografischen Skizze Glauben schenken darf, empfing Obrist den Ruf zur Kunst durch Visionen von neuen, nie dagewesen Städten. Obrists an Goethe geschulte Beobachtung der Natur, so Waenerberg weiter, sei ein Versuch, die Prozesse zu verstehen und nachzubilden, nicht (nur) deren äußerliche Erscheinung. Das gilt auch für die Natur des Künstlers selbst, für den die Kunst eine Veräußerung der "Lebenskraft" darstellt, eine Steigerung und Intensivierung des Lebens, die über Zweck und konstruktive Notwendigkeit hinausgeht und wie er sie exemplarisch in der gotischen Architektur und Skulptur ausgedrückt findet.

Stacy Hand hingegen taucht ein in Obrists "Atlas": ihr Beitrag "Feuer in Schwarzweiss" demonstriert die kreative Anregung, Umwandlung und Transformation naturwissenschaftlicher Abbildungen (Fotos ebenso wie Illustrationen), die Obrist als Vorbilder sammelte und in Skizzen weiterverarbeitete. Überzeugend zeigt sie, wie die Wahrnehmung des Künstlers die in den Abbildungen angelegten visuellen Themen erweiterte, geradezu psychologisch heraustrieb. Besonders die von Lipps geprägte Theorie der Einfühlung, so Hand weiter, erlaubte Obrist die Rückübertragung zweidimensionaler, visueller Phänomene auf plastisch-räumliche und nicht zuletzt körperliche Wahrnehmung in seinen Werken. Mit Wundt beschreibt sie Obrists Arbeitsprozess als eine übersteigerte Wahrnehmungssynthese, ein Überschießen der Imagination in der Interpretation naturwissenschaftlicher Abbildungen, die das Sehen zum (körperlichen) Fühlen hin erweitert.

Ebenfalls der Spur der modernen, reproduzierbaren Medien im Werk von Obrist folgt Viola Weigel in ihrem Beitrag zur Fotografie, doch im Unterschied zu Stacy Hand nicht auf der Seite der Rezeption und Inspiration, sondern der Dokumentation. Zwischen 1896 und 1914 ließ Obrist seine plastischen Arbeiten und Modelle aufwendig fotografieren und großformatig abziehen. Auch wandte Obrist früh die von Wölfflin entwickelte Methode der Doppelprojektion für seine eigenen Vorträge und im Unterricht an, um bei Publikum respektive Studenten ein "vergleichendes Sehen" zu trainieren. Bedeutsam ist die Beobachtung Weigels, dass die Werke mit einer Serie unterschiedlicher Perspektiven abgelichtet sind, die deren Mehr- und Vielsichtigkeit (im Gegensatz zur klassischen Frontalansicht axialer Kompositionen) betonen und so die Bewegung des Betrachters im Raum nachahmen, sogar den Tastsinn adressieren - womit sich der Kreis zu den psychologischen Raumtheorien der Jahrhundertwende, die Stacy Hand behandelt, schließt.

Hubertus Adam nähert sich im letzten Beitrag des Buches der Frage, warum die Gestaltung von Grabmälern einen Schwerpunkt im Œuvre Obrists nach 1900 bildete. Eine Erklärung liefert er mit der Friedhofs- und Grabmalreform nach 1900, die mit der Feuerbestattung neue Wege ging, und zu einem wichtigen Bereich der Reformkultur um 1900 wurde: man denke nur an die Krematorien von Behrens oder Schumacher. Für Obrist stelle das Grabmal neben dem Brunnen eine Möglichkeit zur räumlichen Erweiterung der Skulptur zur Architekturplastik dar. Als dritten Grund nennt Adam die künstlerische Entwicklung Obrists, die vom Ornament zur Tektonik und weiter zu einer neuen Monumentalität jenseits des klassischen Stilrepertoires verlief. Schließlich liefert Adam eine präzise Analyse der realisierten, heute noch existierenden Grabmäler Obrists, die zum Teil als verschollen galten.

Der gelungene Band versammelt so stimmige Annäherungen an Hermann Obrist, die das gewohnte Bild eines "ornamentalen Jugendstilkünstlers" in Frage stellen und zum Teil neu zeichnen. Einzig der Text von Ingo Starz zu Hermann Obrist und Henry van de Velde, die von anfänglich kritischer Distanz zu einer Kooperation für das Werkbundtheater 1914 finden und gemeinsam gegen Muthesius kämpfen, bleibt zu kurz und stichwortartig. Nicht zuletzt die zahlreichen und brillanten Abbildungen von beinahe taktiler Qualität verschaffen dem Leser Zugang zum Lustprinzip und zur Steigerung des Lebens, um die es Obrist in seiner Kunst ging: begreifen und erfahren statt sehen und lernen.


Anmerkungen:

[1] Hermann Obrist: Wozu über Kunst schreiben, in: ders.: Neue Möglichkeiten der Bildenden Kunst, Leipzig, 1903, 20.

[2] Vgl. Forschungsprojekt an der Zürcher Hochschule der Künste "Hermann Obrist im Netzwerk der Künste und Medien um 1900".

[3] Dagmar Rinker: Der Münchner Jugendstilkünstler Hermann Obrist (1862-1927), München 2001 (Dissertation).

[4] Zeynep Çelik Alexander: Jugendstil Visions: Occultism, Gender and Modern Design Pedagogy, in: Journal of Design History 22 (2009), Nr. 3, 203-226.

[5] Angeli Sachs (Hg.): Nature Design: Von Inspiration zur Innovation, Baden 2007 (Ausstellung, Museum für Gestaltung Zürich, 10.08.-02.12.2007).

[6] Annika Waenerberg: Urpflanze und Ornament: Pflanzenmorphologische Anregungen in der Kunsttheorie und Kunst von Goethe bis zum Jugendstil, Helsinki 1992.

Ole W. Fischer