Rezension über:

Bernd Brunner: Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung (= Beck'sche Reihe; 1918), München: C.H.Beck 2009, 253 S., ISBN 978-3-406-59184-6, EUR 12,95
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Rezension von:
Wolfgang Helbich
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Helbich: Rezension von: Bernd Brunner: Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/02/16279.html


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Bernd Brunner: Nach Amerika

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Geschichte wird nicht nur für Historiker geschrieben. Da sind etwa die wissenschaftlichen Werke von Universitätslehrern, die auch den anspruchsvollen Laien anzusprechen suchen, daneben seriöse Überblicksdarstellungen aufgrund von Sekundärliteratur, die weder neue Erkenntnisse noch neue Thesen bieten sollen. Die meisten Darstellungen dieser Art dürften von Fachhistorikern stammen.

Es gibt jedoch auch ernstzunehmende Publikationen mit historischem Sujet, die nicht aus dem universitären Milieu kommen. Für den Verfasser des vorliegenden Buches, Berufsbezeichnung "Sachbuchautor", aber auch Fernseh-Redakteur, Lektor und Übersetzer, ist dies nicht die erste Buchveröffentlichung. Auf eine Geschichte des Aquariums folgte ein auch in den USA publizierter Band über Bären und Menschen, nun die Auswanderung, und für 2010 angekündigt ist ein Titel über den Mond. Der zweite Teil der Homepage-Selbstbeschreibung - "[...] works at the intersection of cultural history and the history of science" - trifft für Nach Amerika nicht zu. Das ist sehr schade. So eng mit der Einwanderung verknüpfte Themen wie Kanalbau und Mississippi-Dampfer, Eisenbahnen, Goldgräbertechniken, nicht zuletzt das Postwesen hätten denkbar lohnende Objekte für den historian of science abgegeben.

Neben dem Text gibt es 17 noch nicht sattsam bekannte Abbildungen, 18 geschickt ausgewählte Kurzbiografien von Leisler, Sauer und Astor bis Hannah Arendt, von Braun und Kissinger, einige Emailadressen als "Hinweise für eigene Recherchen", schließlich 5 Seiten Literaturverzeichnis. Auch wenn man letzteres mühelos um ein Dutzend wichtige Titel ergänzen könnte, ist es durchaus respektabel. Ein Register wird wohl wie üblich erst in der allfälligen amerikanischen Ausgabe geboten.

Es fehlt auch ein Hinweis auf die Zielgruppe des Buches. Demnach müssen die impliziten Hinweise herhalten. Für potenzielle Auswanderer, könnte man meinen. Das wäre nicht ganz abwegig, aber nur im Sinne von landeskundlicher Vorbereitung. Für ernsthaft am Thema und eigenständiger Vertiefung Interessierte? Darauf deuten die Anhänge hin, wenn auch nicht immer der Text. Zur Unterhaltung, z.B. für jene, die von einschlägigen populären Fernsehsendungen sensibilisiert worden sind? Dafür sprechen manche Schwerpunktsetzungen. Sicher nicht für Historiker, weil diese bessere Informationsquellen haben und weil sie, auch wenn nicht auf Nordamerika spezialisiert, an gar zu vielen Vereinfachungen und Auslassungen, wohl auch an manchem Überflüssigen Anstoß nehmen würden.

Der etwas lockere, gelegentlich saloppe Stil ist wohl dem Genre und der mutmaßlichen Zielgruppe angemessen, aber gelegentlich ist ein Satz kaum zu verstehen. "Die finanziellen Mittel fehlten", weil Besitz nur weit unter Wert hätte verkauft werden können "oder auf Ruhegehälter hätte verzichtet werden müssen." (56-57) Rätselhaft auch: "Überrascht äußerte man sich darüber, dass Weißbrot, 'weiß wie Schnee', als höherwertiger galt als dunkles Brot." (102) Wo es doch bei der Masse der Deutschen Weißbrot allenfalls am Sonntag gab. Glücklicherweise bleibt ein Fehltritt wie die folgende Konstruktion im Vorwort die Ausnahme: "Dan Delany gewährte mir freundlicherweise Unterkunft, um in der New York Public Library recherchieren zu können." (10) Kein geringerer als C.H. Beck hat das durchgehen lassen.

Bei aller Anerkennung der Verschiedenheit der Genres mag der Rezensent nicht auf eine fachliche Kritik verzichten, die sich allerdings stichprobenhaft auf die Schlüsselperiode 1900 bis 1920 beschränkt. Der 1901 gegründete Deutschamerikanische Nationalbund diente nicht nur den Interessen der Brauereilobby, sondern propagierte auch den höheren Wert alles Deutschen - zu einer Zeit, als Wilhelm II. und Militarismus auch in Amerika bereits erhebliches Misstrauen gegen das Reich erregt hatten. Nationalbund-Präsident Hexamers Spruch von der unterlegenen amerikanischen Kultur (1915; 109-10) war kein Ausrutscher, sondern ein seit der Jahrhundertmitte bei vielen bürgerlichen deutschen Einwanderern gängiger Gedanke.

Ohne die prodeutsche Propaganda von Einwandererorganisationen 1914-17, zusammen mit gut besuchten öffentlichen Feiern deutscher Siege, massivem politischem Druck gegen den amerikanischen Kriegseintritt, Berichte über deutsche Sabotageakte zur Behinderung der Waffenlieferungen an Großbritannien, nicht zuletzt die Versenkung der Lusitania mit 128 amerikanischen Toten - ohne diese Vorgeschichte, die bei Brunner kaum erkennbar wird, hätte es kaum zu der blindwütigen und in vieler Hinsicht inhumanen Verfolgung von Deutschen und Deutschamerikanern sowie alles Deutschen überhaupt bis hin zur Bezeichnung des Deutschen Schäferhundes (Alsatian) kommen können. Jedenfalls bietet diese Vorgeschichte eine plausible Erklärung, zumal wenn sie durch die traditionelle amerikanische Anfälligkeit für Hysterie ergänzt wird. Unerwähnt bleibt auch die massive deutsche Präsenz in den sozialistischen Parteien, die völlig unwichtig noch nicht waren. Immerhin erhielt ihr Präsidentschaftskandidat Eugene Debs 1912 sechs Prozent der abgegebenen Stimmen. Auf Seite 212 ist sicher "hyphenated Americans" gemeint.

Man könnte die Mängelliste hinsichtlich fehlender Fakten und Interpretationen, allzu pauschaler Urteile, unpräziser Angaben und unglücklicher Formulierungen noch erheblich weiterführen, aber solche Aufzählungen sind für ein Buch ohne wissenschaftlichen Anspruch nicht sonderlich relevant. Die Unterschiedlichkeit der Kriterien von Historiker und Sachbuchautor ist auch bei der Gewichtsverteilung erkennbar. Ersterem erscheinen die Abschnitte über Berufsaussichten für auswandernde Akademiker (128-134), über das Projekt eines deutschen Staates in Nordamerika (137-143) oder den kalifornischen Goldrausch (177-185) viel ausführlicher als bei deren Bedeutung für das Gesamtthema angemessen. Doch was dem einen als Unausgewogenheit gilt, ist in einem solchen Sachbuch wohl die Konzentration auf das Farbige, das Anschauliche, das direkt Ansprechende. Hierzu passt auch der Spürsinn des Autors für skurrile Personen und Ereignisse, die häufig alles andere als typisch oder repräsentativ sind.

Es gibt noch mehr Positives. Das Literaturverzeichnis ist nicht Verzierung, sondern der Verfasser hat zumindest den größten Teil erkennbar zur Kenntnis genommen. Die Kapitelüberschriften, nicht weniger als 29 von den "Anfängen der deutschen Amerikaauswanderung" bis "Nach dem Zweiten Weltkrieg", lassen erkennen, dass Brunner nur wenige wichtige Aspekte seines Themas ausgelassen hat. Vieles mag zu knapp oder oberflächlich erscheinen, aber kaum etwas fehlt ganz.

Der Rezensent findet sich auf einer Gratwanderung. Einerseits hat er als Historiker vielerlei erhebliche Bedenken, aber bei dem Versuch, sich in die Rolle des diffusen Zielpublikums zu versetzen, sieht er vor allem Erfreuliches. Bei allen Ungenauigkeiten im Detail stimmen die großen Linien. Wer ohne Vorwissen das Buch liest, gewinnt von dessen Thema ein undifferenziertes, aber weitgehend dem heutigem Kenntnisstand entsprechendes Bild. Angesichts einer solchen Leistung ist die anekdotisch-skurril-unterhaltsame Komponente nicht nur zu verkraften, sondern, so schwer es fallen mag, auch zu begrüßen, weil sie mutmaßlich neue Leserkreise für ein wichtiges Thema erschließt. Angesichts des doppelten Reizthemas "deutsch" und "Amerika" verdient Erwähnung, dass der Autor sich konsequent jeglicher Deutschtümelei wie auch ideologischer Amerika-Urteile enthält.

Wolfgang Helbich