Rezension über:

Thomas Raithel / Andreas Rödder / Andreas Wirsching (Hgg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2009, 208 S., ISBN 978-3-486-59004-3, EUR 29,80
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Rezension von:
Morten Reitmayer
Fachbereich III, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Morten Reitmayer: Rezension von: Thomas Raithel / Andreas Rödder / Andreas Wirsching (Hgg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München: Oldenbourg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/15964.html


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Thomas Raithel / Andreas Rödder / Andreas Wirsching (Hgg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne?

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Die deutsche Zeitgeschichtsschreibung ist seit einigen Jahren dabei, die 1970er und 80er Jahre zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen und dieses Terrain nicht mehr allein den gegenwartsbezogenen Disziplinen zu überlassen. Bislang dominierte bei diesen Bemühungen allerdings eine in Moll getönte Grundstimmung: "Das Ende der Zuversicht", "Die große Ernüchterung", so lauten zwei der bekanntesten Titel. [1] Umso neugieriger macht der hier vorzustellende Sammelband (monografische Studien stellen noch die Minderzahl dar), dessen Titel Untersuchungen verspricht, die nicht nur nach dem sich in den fraglichen Jahrzehnten Auflösenden fragen, sondern auch nach dem neu Entstehenden.

Das Buch ist in vier Abteilungen gegliedert: "Ökonomie und Technologie", "Kultur und Gesellschaft", "Politik", "Resümees".

Die Leitfragen der Herausgeber richteten sich dabei auf nichts weniger als das mögliche Ende oder das Fortbestehen der Epoche der "Moderne", auf die Tragfähigkeit des Begriffs der "Postmoderne" und damit auf den Zäsurcharakter des untersuchten Zeitraums. Vollzog der Prozess der Moderne damals eine bloße Beschleunigung, oder entstand eine "Nach-Moderne"? Zur Beantwortung dieser Fragen haben die Herausgeber acht "Basisprozesse" identifiziert, deren Analyse den Autoren übertragen wurde, und die auch die Einteilung des Bandes widerspiegeln. Im Einzelnen sind dies (1) die Tertiarisierung der Wirtschaftsstruktur, (2) die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, (3) die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt, (4) die Durchsetzung der Mikroelektronik auf breiter Front, (5) die massenmediale Revolution, (6) Pluralisierung und Individualisierung "im Zeichen des Wertewandels, von Freizeit und Entkirchlichung in radikalisierter Form", (7) die Veränderung der Sozialstruktur durch Expansion der Mittelschichten, sowie (8) die Anpassungsleistungen an den geforderten Strukturwandel. Allerdings haben sich nicht alle Autoren auf dieses Untersuchungsprogramm gleichermaßen eingelassen. So findet man zwar in den Beiträgen über den wirtschaftlichen Strukturwandel (Gerold Ambrosius), über die Veränderungen der Sozialstruktur "von der Klassengesellschaft zu neuen Milieus" (Stefan Hradil) oder über die Ambivalenzen der Sozialpolitik (Manfred G. Schmidt) viel Wissenswertes (wenn auch nichts grundsätzlich Neues) über die westdeutsche Gesellschaft von ausgewiesenen Experten (knapp die Hälfte der Autoren besteht aus Nichthistorikern). Aber eine Orientierung auf die Leitfragen, vor allem eine Auseinandersetzung mit den Begriffen "Moderne" und "Postmoderne" findet in den Einzelbeiträgen nicht statt. Dies ist umso bedauerlicher, als dies bei einigen Beiträgen sehr nahegelegen hätte. So argumentiert Andreas Wirsching sehr plausibel, wie der Wandel der typischen Erwerbsbiografien, nämlich die Entstandardisierung männlicher Erwerbsarbeit und die steigende Frauenerwerbsquote, durch das Ende eines "fordistischen" Lebenslaufregimes begründet waren, das durch den wirtschaftlichen Strukturwandel erodierte. Michael Schwartz verfolgt die immerhin diskussionswürdige These eines Wertewandels in der Bundesrepublik und in der DDR anhand der Reformen des Abtreibungsrechts, und Holger Nehring macht in seinem instruktiven Beitrag über die Massenmedialisierung der westdeutschen Gesellschaft darauf aufmerksam, dass diese nicht unmittelbar in die parallelen Modernisierungs- und Liberalisierungsprozesse eingebettet war, sie also nicht geradlinig als Teil von Modernisierung oder beginnender Postmoderne interpretiert werden kann.

So bleibt es den Resümees überlassen, die Ergebnisse der Beiträge unter der Perspektive der Leitfragen zu diskutieren. Dieser Aufgabe stellt sich jedoch nur die zweite Abschlussbetrachtung (Andreas Rödder), während diejenige von Hans Maier in den vertrauten Bahnen aufgeklärt-konservativen Meinungswissens ("Fortschrittsoptimismus oder Kulturpessimismus") verbleit. So bleibt es Rödder überlassen, die Fäden zusammenzuführen. Unter der Überschrift "Moderne - Postmoderne - Zweite Moderne" sucht er ganz ausdrücklich nach Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in jenen beiden Jahrzehnten. Dabei fällt auf, dass er in seiner Auseinandersetzung mit diesen Kategorien sehr viel größeres Gewicht auf die Präzisierung eines tragfähigen Postmoderne-Konzepts legt als auf eine Klärung dessen, was die Moderne denn ausgemacht hat. Vor allem die ideengeschichtliche Dimension, als deren Kern weithin eine grundlegende Veränderung des Zeitbezugs in der Moderne angesehen wird - von einer Orientierung an der Vergangenheit zur einer solchen an der Zukunft und damit vom "Zwang der Tradition" zum "Zwang zur Selektion" - bleibt hier undiskutiert. Darunter leidet notwendigerweise die Plausibilität von Rödders Postmoderne-Begriff, den er aus der Architektur und dem Städtebau übernimmt, und als dessen drei spezifische Kennzeichen er (1) Individualisierung, (2) radikale Pluralisierung sowie (3) einen sich als Entnormativierung äußernden Werte- und Normenwandel ansieht. Diese drei miteinander verflochtenen Prozesse sprechen seiner Meinung nach für das Ende der "Moderne" und den Beginn der Postmoderne zwischen 1970 und 1990.

Für eine Vertiefung der Diskussion hätte allerdings nach Ansicht des Rezensenten gerade der Bereich "Politik" des Sammelbandes anders akzentuiert werden müssen. Zumindest eine tiefer gehende Untersuchung der sich in der Parteigründung der Grünen verdichtenden Umwelt-, Friedens- und der Frauenbewegung als Ausdruck von neuen Partizipationsforderungen hätte man sich gewünscht. So bleibt der Eindruck eines Sammelbandes, der viele interessante Einzelbeiträge vereint, der aber in der Verfolgung seiner Leitfragen konsequenter hätte gestaltet werden können.


Anmerkung:

[1] Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007.

Morten Reitmayer