Rezension über:

Jan Eckel: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 174 S., ISBN 978-3-525-35821-4, EUR 18,90
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Rezension von:
Christa Jansohn
Centre for British Studies, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Christa Jansohn: Rezension von: Jan Eckel: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/15360.html


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Jan Eckel: Geist der Zeit

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"Die Geisteswissenschaften sind ein fester Bestandteil unserer Wissenschafts- und Alltagskultur. In ihnen begreift sich die moderne Welt in Wissenschaftsform. Dieses Begreifen ist unter Erklärungs- und Orientierungsgesichtspunkten unabdingbar für eine Welt, die selbst ein wissenschaftliches (und technisches) Wesen hat. Um dieser Aufgabe zu entsprechen, müssen die Geisteswissenschaften ihre derzeitigen eigenen Orientierungs- und Organisationsprobleme überwinden, mit denen sie sich häufig selbst als Teil jener Probleme moderner Kulturen erweisen, zu deren Bewältigung sie eigentlich da sind. In dieser Situation sind zwei Dinge geboten: Erstens eine nüchterne Analyse des derzeitigen Zustandes und der Entwicklungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften [...] Zweitens bedarf es konkreter Vorschläge zur Reorganisation der Geisteswissenschaften sowohl in ihrer universitären als auch in ihrer außeruniversitären Gestalt." [1]

Und drittens, so mag man dem "Manifest" hinzufügen, bedarf es auch eines kritischen historischen Bewusstseins, um die deutschen Geisteswissenschaften besser zu verorten und um daraus eventuell auch für die Zukunft zu lernen. Mit dem schmalen Überblicksband ist dieses dem Freiburger Historiker, Jan Eckel, durchaus gelungen. Präzise, sehr gut lesbar und prägnant stellt er die wichtigsten Stationen in der Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften seit dem späten 19. Jahrhundert vor, ordnet ihre Entwicklungen in den institutionellen Kontext ein und diskutiert u.a. auch die wichtigsten Forschungskonzeptionen. Untersucht wird zudem, wie die einzelnen Fächer und Institutionen auf den politischen und gesellschaftlichen Wandel reagierten. Da die Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften offensichtlich von politischen Resonanzbedingungen abhängt, ist der Überblick auch chronologisch nach den wichtigen Umbrüchen in folgende fünf Hauptkapitel unterteilt: Abschnitt "I. Grundlegung und beginnende Krise 1870-1918" zeichnet die institutionellen Umbrüche, die Pluralisierung der Forschung sowie den Krisendiskurs und Bedürfnis nach »Ganzheit« und die Neudefinition der Erkenntnisgrundlagen nach; Abschnitt "II. Desorientierung und Verschärfung 1918-1933" beschäftigt sich mit den Statuseinbußen und Problemen der gesellschaftlichen Verortung, der Forschungskontinuität, Weltkriegserfahrung und dem Ganzheitsdenken; der umfangreiche Abschnitt "III. Herrschaft und Legitimierung 1933-1945" analysiert u.a. die Konsequenzen der NS-Wissenschaftspolitik, die Angleichungen und Radikalisierungen sowie die Funktionen der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus, während Kapitel "IV. Entradikalisierung und langsame Umorientierung 1945-1960" personelle Kontinuitäten behandelt und den Umgang mit den nationalsozialistischen Fachvergangenheiten diskutiert und auf den (vorsichtigen) Wandel in der Forschung verweist. Im letzten Kapitel "V. Neue Aufbrüche, neue Unübersichtlichkeit, neue Krisen 1960-1990" stehen die institutionelle Expansion sowie die Umbrüche in den Forschungskonzeptionen und neue Krisenwahrnehmungen im Mittelpunkt. In Ausblick wird (etwas zu knapp) die Situation der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert angerissen. Hier fallen die bekannten Stichworte "Bachelor- und Masterstudiengänge", Ökonomisierungszwang, Wettbewerb, Marktorientierung, Globalhaushalt, Evaluation und Ranking (vgl. 141 ff.), die man durchaus noch differenzierter hätte behandeln können. Auf den Exzellenzbegriff wird (noch) nicht eingegangen.

Ausgeklammert werden zudem darüber hinaus bedauerlicherweise die Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften in der ehemaligen DDR sowie die zunehmende Bedeutung der Kulturwissenschaften bzw. der "area studies" innerhalb der Geisteswissenschaften. Auch wird die westdeutsche geisteswissenschaftliche Forschung zu wenig im internationalen Vergleich gesehen: hier wäre u.a. die Frage der Monopolstellung einzelner Fächer und deren Verlust innerhalb des internationalen Vergleichs ebenso interessant gewesen wie die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz der Geisteswissenschaften im Wandel der Zeiten. Diese Desiderata werden auch nicht durch die ansonsten sehr gut ausgewählte Forschungsliteratur kompensiert, die sich jeweils am Ende eines Kapitels befindet. Gewünscht hätte man sich vielleicht auch noch mehr Zahlenmaterial und Namen, mit denen bestimmte Beobachtungen präziser hätten dargestellt werden können, ohne viel Raum einzunehmen. So liest man lediglich, dass sich die Zahl der Studierenden in den sechziger Jahren verdoppelte (14), dass das erste Publikationsorgan der Deutschen Philologie bereits 1841 erschien (16), und dass der Anteil von Studentinnen Anfang der dreißiger bei 20 Prozent lag (36). Bei einer zweiten Auflage wäre ein Nachtrag dieser Zahlen und einiger Namen wünschenswert. Beispiele werden vornehmlich aus der (Neueren) Geschichte und Germanistik rekurriert. Während die Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie, Soziologie sowie die allgemeine Sprachwissenschaft noch sporadisch mit in die Betrachtungen einbezogen werden, wird man (fast) vergeblich die neueren Fremdsprachen (v.a. Anglistik und Amerikanistik und Romanistik) in diesem Überblick suchen, was deren Wert für diese Zielgruppe doch beträchtlich schmälert. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestärken denn auch die Annahme, dass eine Geschichte der deutschen Geisteswissenschaften innerhalb von nur knapp hundertundfünfzig Seiten kaum bzw. gar nicht zu leisten ist. Demnach zählte man 2006 insgesamt 17 Studienbereiche mit 96 Fächern zu den Geisteswissenschaften. Jeder Vierte (499.000) der fast zwei Millionen Studierenden war 2006 in einem geisteswissenschaftlichen Studiengang eingeschrieben, davon sind zwei Drittel der Studierenden weiblich. [2] Diese Zahlen zeigen, dass jeder Autor eines Überblickbandes sich auf einen Bruchteil der geisteswissenschaftlichen Fächer konzentrieren muss, wobei aber sicherlich den neusprachlichen Philologien ein wichtiges Kapitel eingeräumt werden müsste, zumal die Anglistik neben Germanistik und Geschichte das drittgrößte Fach innerhalb der Geisteswissenschaften ist.

Der knappe Überblick Eckels ist als Einstieg in die Geschichte der westdeutschen Geisteswissenschaften Studierenden (v.a. der Geschichte und Germanistik) und dem interessierten Laien zu empfehlen. Einzelne wichtige Akteure, Theorien, Methoden und bestimmte Themenbereiche werden zuverlässig in die historische Entwicklung eingeordnet und jeweils kurz erläutert. Eckels Buch zeigt darüber hinaus auch, dass die derzeitige kulturpessimistische Klage offensichtlich eine recht lange Tradition in Deutschland besitzt, die es nicht selten vorzieht über ihre Krisen zu lamentieren als mit ihren nationalen und internationalen Erfolgen selbstbewusst und gleichzeitig aber auch selbstkritisch in die Zukunft zu blicken.


Anmerkungen:

[1] Carl Friedrich Gethmann/ Dieter Langewiesche/ Jürgen Mittelstraß/ Dieter Simon/ Günter Stock: Mainfest Geisteswissenschaft. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2005. Abrufbar unter: http://edoc.bbaw.de/oa/books/re3mN6lyNGDE2/PDF/21Ifq1F5Q8k8U.pdf [PDF-Dokument]

[2] Vgl. http://www.abc-der-menschheit.de/coremedia/generator/wj/de/__Downloads/Texte/Die_20Geisteswissenschaften_20in_20Deutschland.pdf [PDF-Dokument]

Christa Jansohn