Rezension über:

Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 347 S., ISBN 978-3-412-20288-0, EUR 42,90
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Rezension von:
Arnd Bauerkämper
Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Arnd Bauerkämper: Rezension von: Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15914.html


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Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns

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Die Auswirkungen politischer Umbrüche auf Lebensverläufe und Lebensentwürfe sind ein Grundproblem kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftlicher Forschung. Das Scheitern der amerikanischen Südstaaten (Confederate States of America, CSA), mit der Sezession von der Union ihre politische und ökonomische Selbständigkeit zu sichern, im Bürgerkrieg (1861-1865) und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik (nach Artikel 23 des Grundgesetzes) konfrontierten die jeweiligen Eliten mit der Herausforderung, die entsprechenden Transformationen zu bewältigen. Sowohl in den Vereinigten Staaten nach 1865 als auch in Deutschland nach der Wiedervereinigung 1990 setzten sich die Führungsgruppen auch autobiografisch mit dem Scheitern ihrer biografischen Projekte auseinander. Dem Vergleich dieser Prozesse ist das Buch gewidmet, mit dem Stefan Zahlmann eine überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift vorgelegt hat.

Der Autor, der bereits mit Studien zum (auto-)biografischen Umgang mit Umbrüchen hervorgetreten ist, vergleicht die autobiografischen Erinnerungen der Führungskräfte aus den Südstaaten und aus Ostdeutschland und unterscheidet dabei zwischen den "alten Eliten", die in den CSA und in der DDR maßgeblich und regelmäßig an Entscheidungen mitgewirkt hatten, den "Gegeneliten", denen diese Beteiligung verwehrt worden war, und den "neuen Eliten", die aus den CSA und der DDR stammten und im vereinigten Amerika und Deutschland verantwortliche Positionen mit gesamtgesellschaftlichem Einfluss übernahmen.

Diese Anlage der Untersuchung vermag einerseits die Genese und den Wandel autobiografischer Erinnerungskulturen komparativ nachzuzeichnen und zu erklären. Dabei weisen nicht nur die Konstellationen deutliche Ähnlichkeiten auf, sondern auch die Themen der mit dem Scheitern verbundenen Reflexionen, so die Sklaverei und der "Sozialismus" als offizielle Selbstzuschreibungen in den CSA bzw. in der DDR und die Darstellung des Nordens bzw. Westens in den beiden Räumen.

Andererseits ist der Vergleich nicht nur asynchron, sondern auch ansonsten überaus komplex. Die Südstaaten hatten sich zwar bereits vor dem Bürgerkrieg besonders hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Struktur deutlich vom Norden der USA unterschieden und in der Auseinandersetzung mit der Gesetzgebung der Bundesregierung auf der einzelstaatlichen Souveränität bestanden. Sie hatten sich aber erst 1860/61 von den USA getrennt. Schon vier Jahre später konnten die siegreichen Nordstaaten diese Sezession zurücknehmen. Demgegenüber bestand die DDR vier Jahrzehnte. Zudem konnte Zahlmann für die DDR nur die Jahre von 1990 bis 2004 berücksichtigten, während der untersuchte Zeitraum für die CSA mit 56 Jahren (1866-1922) sehr viel umfassender ist. Wenn man berücksichtigt, dass - wie der Autor selbst betont - in den USA die tiefen Gegensätze und markanten Unterschiede in den autobiografischen Erinnerungskulturen erst im frühen 20. Jahrhundert zugunsten eines Konsenses zurückgetreten sind, ist dieser Umstand bei einer vergleichenden Betrachtung umfassend in Rechnung zu stellen. Diese Probleme des Vergleichs werden in dem Buch, in dem die historische Einordnung insgesamt unterbelichtet bleibt, nicht hinreichend berücksichtigt, sodass die Befunde mit erheblichen Vorbehalten zu interpretieren sind.

Dennoch gelingen Zahlmann instruktive Einsichten. So löste der staatliche Zusammenbruch in den Vereinigten Staaten und in der DDR Erinnerungskonflikte aus, in denen sich die alten Eliten verteidigten, aber auch die neuen Eliten nach Repräsentativität und Verbindlichkeit ihrer spezifischen autobiografischen Reflexionen strebten. Damit sollte jeweils die Erinnerungskultur der Vereinigungsgesellschaft geprägt werden. Die autobiografischen Texte bewirkten deshalb gleichermaßen eine "Einbindung der individuellen Biographie in das Schicksal einer Gemeinschaft und zugleich die Historisierung der eigenen Erinnerung als Teil einer national erlebten geschichtlichen Entwicklung." (67)

Auch darüber hinaus treten frappierende Ähnlichkeiten der autobiografischen Erinnerungen hervor. So war aus der Sicht der alten Eliten mit den CSA bzw. der DDR zwar der Staat, in dem sie Leitungsfunktionen übernommen hatten, gescheitert, keinesfalls aber ihrem biografischen Anliegen nachhaltig der Boden entzogen worden. Vielmehr hofften die alten Eliten auf ein günstiges Urteil künftiger Generationen. Individuelles oder kollektives Scheitern war in den autobiografischen Rückblicken nicht vorgesehen. Es bleibt aber zu prüfen, ob und inwiefern Erkenntnisse der psychologischen Forschung über Traumata und Verdrängung zur Interpretation dieser Befunde beizutragen vermögen.

Wie Zahlmann aber überzeugend erläutert, banden auch die Gegeneliten ihren Kampf um die "Sache" an ihre individuelle Biografie. Allerdings verteidigten sie nicht jeweils einen separaten Staat, sondern universale Normen und Werte wie Gerechtigkeit. Diese Autoren kritisierten deshalb die Führungen der untergegangenen CSA bzw. DDR. Alte Eliten, die auch in der vereinigten Gesellschaft Führungspositionen einnahmen, und Vertreter der neuen Eliten beklagten die Distanzierung der alten Eliten von der jeweiligen Bevölkerung und die von ihnen betriebene Spaltung der Nation. Damit wandten sie sich gegen eine enge Interessenpolitik, ohne aber die "Sache" des "Sozialismus" oder der einzelstaatlichen Souveränität gegenüber der deutschen oder amerikanischen Bundesregierung aufzugeben.

Die auffallenden Ähnlichkeiten der autobiografischen Erinnerungskulturen in den Südstaaten nach 1865 und in Ostdeutschland im Anschluss an die Wiedervereinigung erklärt der Verfasser unmittelbar nachvollziehbar mit der "Gleichartigkeit der Praktiken, ein solches Ereignis kulturell zu verarbeiten: Die enge Beziehung zwischen Erinnerungsmedium, erinnernden Personen und erinnertem Ereignis lassen ein spezifisches Verhältnis erkennen, das zwischen einem kulturellen Gedächtnis und der historischen Situation der westlichen Moderne besteht, in der es realisiert wird." (291) In den skizzierten drei Typen von Texten waren autobiografische Form, der Stellenwert des Scheiterns und die Bewertung der vereinigten Gesellschaften eng miteinander verschränkt.

Dabei vollzog sich in den Südstaaten und in Ostdeutschland nach 1865 bzw. 1990 zunächst eine "Versachlichung", mit der die alten Eliten und Gegeneliten die Bedeutung ihres Scheiterns zu relativieren bestrebt waren, bevor diese Führungsgruppen den Zerfall der Staaten, mit denen sie sich identifiziert hatten, biografisch zugunsten der Gründung der CSA bzw. der DDR verdrängten. In einem weiteren Stadium neutralisierten die Vertreter der neuen Eliten das Scheitern ihrer Reform- und Erneuerungsprojekte im Rahmen der Zweistaatlichkeit, indem sie auf die Vorzüge der Vereinigungsgesellschaften verwiesen. Wie angedeutet, ist aber auch der Phasenvergleich schwierig, da sich die Abfolge autobiografischer "Versachlichung", "Biographisierung" und "Neutralisierung" (292) des Scheiterns z.T. auf unterschiedliche Führungsgruppen bezieht.

Stefan Zahlmanns Monografie zeigt exemplarisch, dass auch die komparative Untersuchung sehr unterschiedlicher Gesellschaften und Kulturen instruktive, neue Befunde erbringen, weiterführende Einsichten vermitteln und damit der Forschung erhebliche Impulse vermitteln kann. Allerdings treten in dem Buch dabei die spezifischen Kontexte insgesamt zu sehr in den Hintergrund. Überdies verdienen Transfers gerade in asynchron vergleichenden Studien besondere Aufmerksamkeit, denn die später lebenden Akteure hatten die Möglichkeit, vorangegangene Prozesse wahrzunehmen, aufzugreifen oder aus ihnen zu lernen. Auch wenn die ostdeutschen Eliten die autobiografischen Erinnerungen der Führungsgruppen in den Südstaaten der USA offenbar von 1990 bis 2004 nicht systematisch studiert und direkt aufgenommen oder explizit zurückgewiesen haben, bleibt die Verflechtungsgeschichte autobiografischer Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns ein Forschungsdesiderat. Insgesamt hat Stefan Zahlmanns Buch die kultur-, geschichts- und literaturwissenschaftliche Forschung zum Umgang mit einschneidenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen durch wichtige Erkenntnisse und kräftige Impulse bereichert.

Arnd Bauerkämper