Rezension über:

Thomas Meyer: Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 207 S., ISBN 978-3-525-35094-2, EUR 19,90
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Rezension von:
Görge K. Hasselhoff
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Görge K. Hasselhoff: Rezension von: Thomas Meyer: Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/14735.html


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Thomas Meyer: Vom Ende der Emanzipation

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In der Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts gibt es einige nahezu unerforschte Bereiche, dazu gehörte bis vor Kurzem jener der deutschsprachigen jüdischen Philosophie nach 1933. Das mag vielerlei Gründe haben, beispielsweise die Annahme, dass es keine beachtenswerte Philosophie mehr gab. Die Zeit davor ist leidlich erforscht, wenngleich es in der geistesgeschichtlichen Wahrnehmung eine gewisse Engführung auf die posthume Religionsschrift Hermann Cohens [1], Franz Rosenzweigs "Stern der Erlösung" von 1921 und Martin Bubers dialogische Philosophie des "Ich und Du" gibt.

So erstaunlich es anmutet, bedeutet das Jahr 1933 zwar einen Einschnitt, aber noch nicht das Ende der philosophischen Bemühungen. Hier eine erste Sichtung des Materials vorzunehmen, ist das Anliegen Thomas Meyers (vgl. 196). Der Verfasser, bekannt nicht zuletzt durch zahlreiche Beiträge in verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen und gegenwärtig Mitarbeiter am Leipziger Simon-Dubnow-Institut, hat für seine Darstellung die Form des Essays gewählt; das macht das Buch zwar leichter lesbar, aber die verhandelten Thesen schwerer überprüfbar. Der Titel des Buches nimmt Anleihen an Max Wiener, der 1933 im Vorwort seines Buches "Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation" [2] zeitdiagnostisch das Ende der jüdischen Emanzipation, die im Umfeld von Moses Mendelssohn ihren Ausgang genommen hatte, proklamiert hatte. Meyer untersucht nun Schriften jüdischer Denker, die zwischen 1933 und 1938 erschienen sind, auf ihren philosophischen Gehalt. Das ist ein verdienstvolles Unterfangen, wenngleich es auch die Grenzen eines solchen aufzeigt.

Im ersten Kapitel wird Alexander Altmann vorgestellt, zu dessen bleibenden Verdiensten die Mitarbeit an der großen Moses-Mendelssohn-Ausgabe gehört. Aber nicht diese wird hier dargestellt, sondern der Blick stattdessen auf zwei entlegen publizierte Aufsätze zu den Fragebereichen "Religion und Wirklichkeit" und "Was ist jüdische Theologie?" gerichtet. Meyer geht bei der Analyse von der Grundannahme aus, Altmann habe sich "der Theologie, die er klassisch als Lehre von der Religion begriff", gewidmet (25). Hier wäre eine Nachfrage an den Autor zu richten, ob diese Definition von Theologie, die sich gewöhnlich als Lehre von Gott versteht, angemessen ist, zumal es später heißt: "Übersetzt lautet Altmanns These: Die durch die Halachah [d.h. das jüdische Religionsgesetz und damit die Norm des Handelns, Anm. des Rezensenten] angeleitete Torah-Auslegung könne zeitgemäß mit 'Theologie' wiedergegeben werden; wenn das stimmt, dann ist jüdische Theologie wesentlich als Halachah zu begreifen." (39) Tora-Auslegung ist aber auch nicht Religion, sondern allenfalls religiöse Praxis!

Im zweiten Kapitel wendet sich Meyer der vielleicht bekanntesten innerjüdischen Kontroverse der 1930er Jahre zu, dem literarischen Streit zwischen Julius Guttmann und Leo Strauss. Diesen Streit stellt er vor dem Hintergrund der Debatte um die Frage nach einer jüdischen Philosophie in der Frühzeit der Wissenschaft des Judentums (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und den Schriften zum Maimonides-Jubliäum in der Mitte der 1930er Jahre dar. Für Guttmann besteht dabei - in der Tradition Manuel Joels sowie seines Vaters Jacob Guttmann (leider fehlen diese Namen in der Darstellung) - eine "Strukturähnlichkeit der jüdisch-philosophischen mit der christlichen und mit der islamischen Überlieferung" (78). Guttmanns Darstellung war entsprechend eine ideengeschichtliche. Dagegen stellte Strauss eine Umdefinition der Religionsphilosophie, indem er sie explizit an die Offenbarung band. Sie "war jetzt ein durch das Gesetz verpflichtetes und aufgerufenes Medium, das nur durch die Halachah selbst kreiert werden konnte." (106) Die Schrift von Strauss brachte noch eine Erwiderung Guttmanns hervor, die jedoch erst spät und posthum publiziert wurde.

Im dritten Kapitel wendet sich Meyer der bemerkenswerten Rezeption Rosenzweigs in den 1930er Jahren zu, der sich in der Einleitung zur Ausgabe der "Jüdischen Schriften" Hermann Cohens als dessen legitimer philosophischer Erbe stilisiert hatte. [3] Eine überzeugende Begründung scheint es nicht zu geben, aber es fällt auf, dass z.B. Ignaz Maybaum sich vom Kritiker zum Verehrer wandelte, während der schon genannte Altmann begründete Vorbehalte gegenüber Rosenzweigs Philosophie äußerte. Möglicherweise war z.B. die Bedeutung durch Rosenzweigs pathetisches Eintreten für das "Volk" - eine Sprechweise, die sich nur in Nuancen von dem "völkischen" Vokabular der 1930er Jahre unterschied - ein Grund für die Rezeption, bei der ihm weniger die Funktion eines kritisch zu analysierenden Philosophen als vielmehr die des philosophischen Steinbruchs für eigene Begründungszusammenhänge zukam.

Das vierte Kapitel ist der Analyse mehrerer kurzer Aufsätze Fritz Heinemanns gewidmet, der 1935 "Die Stunde der jüdischen Philosophie" (so der Titel eines seiner Aufsätze) ausrief, die ihrerseits existenz-, zeit- und raumgebunden sei. Im Sinne einer jüdischen Philosophie waren diese Kategorien entsprechend "jüdisch" zu interpretieren; das anvisierte Buch zur These hat Heinemann allerdings nie geschrieben.

Das virtuos geschriebene Buch Meyers regt zum Nachdenken und zum Aufsuchen der behandelten Quellen an. Das ist nachdrücklich hervorzuheben. Zugleich - und das muss mit großem Bedauern festgestellt werden - ist es trotz des historischen Zeitraums, den es in den Blick nimmt, kein methodisch historisch verfasstes Buch. Die Präsentation ist vielfach (zu) assoziativ und die Argumentation leider nicht immer nachprüfbar. Zu hoffen ist, dass die angekündigte umfangreichere Studie desselben Verfassers [4] hier Abhilfe schafft.


Anmerkungen:

[1] Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Frankfurt am Main, 2. Aufl. nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet [...] von Bruno Strauß, 1929 [diverse Nachdrucke].

[2] Vgl. Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (1933), hg. und mit einem Nachwort versehen von Daniel Weidner, Berlin 2002, 4.

[3] So gegen Meyers Darstellung; vgl. zu diesem Zusammenhang demnächst Dieter Adelmann: "Reinige dein Denken". Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen. Vorträge, Aufsätze und Materialien, aus dem Nachlass hg., ergänzt und mit einem einleitenden Vorwort versehen von Görge K. Hasselhoff, Würzburg 2009, insb. Kap. C 6.

[4] Thomas Meyer: Zwischen Philosophie und Gesetz. Jüdische Philosophie und Theologie von 1933 bis 1938 (= Supplements to The Journal of Jewish Thought and Philosophy; 7), Leiden / Boston 2009.

Görge K. Hasselhoff