Rezension über:

Alexander Deeg: Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum (= Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie; Bd. 48), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 608 S., ISBN 978-3-525-62390-9, EUR 78,90
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Rezension von:
Görge K. Hasselhoff
Bonn / Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Görge K. Hasselhoff: Rezension von: Alexander Deeg: Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 4 [15.04.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/04/13166.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 8 (2008), Nr. 4

Alexander Deeg: Predigt und Derascha

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Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Dissertation, die im Jahr 2005 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Der Autor ist evangelisch-lutherischer Pfarrer und inzwischen wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Theologie, zuständig also für die theoretische theologische Reflexion in der Praxis vorkommender Phänomene. Eines seiner Hauptbetätigungsfelder ist die Predigt und ihre Einübung. Hierfür ist er auch Mitherausgeber bzw. Schriftführer verschiedener Praxishilfen.

Mit seiner umfangreichen Dissertation versucht er einen Bogen zwischen jüdischer und christlicher Textauslegung und Predigtweise zu schlagen. Das geschieht in zwei Hauptschritten. Das Themenfeld von Derascha ("Predigt", insbesondere in talmudisch-rabbinischer Zeit) und jüdischer Predigt bis zur Gegenwart wird in "historischer und hermeneutischer Perspektive" entwickelt (Teil I, 47-218). In den Blick genommen werden rabbinische Formen der Predigt, der durch arabisch-aristotelische Philosophie geänderte mittelalterliche und frühneuzeitliche Zugang, sowie die moderne Predigt im Judentum seit Joseph Wolfs Predigten in Dessau (1808). Auf den ersten Blick etwas unverbunden folgt ein zweiter Hauptteil, in dem die Applikation jüdischer Predigtformen auf christliche Predigt erfolgt (219-528). Neben einer großangelegten und sehr theorielastigen Diskussion christlicher theologischer Predigtkonzepte liegt hier das Hauptgewicht auf einem fast vergessenen und deswegen in der christlich-homiletischen Theorie neuen Ansatzes, dem Predigen als einer Anleitung und Hinführung zum Schriftstudium der gottesdienstlichen Gemeinde.

Das Buch wird durch ein Geleitwort des (liberalen) Rabbiners Jonathan Magonet (15f) und eine Einleitung (21-45) eröffnet, sowie eine kurze Zusammenfassung (529-533) und einen dreifachen Appendix beschlossen. Auf das umfangreiche Literaturverzeichnis (535-591) folgen ein Glossar, in dem die wichtigsten Fachausdrücke für jüdische Exegese erläutert werden (593-596), und ein Namenregister (597-608). Das Buch ist überwiegend gut lektoriert.

Nun ließe sich jedoch fragen, warum ein derart praxisorientiertes Buch für Historiker relevant sein sollte. Eine derartige Frage ist nicht leicht zu beantworten. Von der Vorgehensweise des Autors her wäre die Antwort kurz und niederschmetternd. Er studiert selten Primärquellen, ja, er hebt sogar explizit hervor, dass seine Arbeit auf Sekundärquellen fußt: "Es soll bei der folgenden Darstellung versucht werden, eine sich primär auf die Sekundärliteratur stützende flächige Betrachtung der hermeneutischen Entwicklung jüdischer Predigt mit einigen Einzelanalysen von Predigten und homiletischen Werken zu verbinden." (61) Diese Sekundärquellen sind zwar in der Regel zutreffend ausgewertet, aber der fehlende Quellenbezug zeigt sich in der Unkenntnis der historischen Dimensionen der behandelten Materie. Um ein Beispiel zu geben: Der Dozent des Breslauer Jüdisch-theologischen Seminars für die Geschichte der Religionsphilosophie, Manuel Joel, wird von Deeg zutreffend als der erste Dozent für Homiletik genannt (vgl. 145). Die posthum veröffentlichten Fragmente zur Homiletik werden jedoch ebenso wenig genannt wie die Bedeutung Joels für die erste Generation der Absolventen des Seminars bis hin zum hodegetischen Ansatz der Religionsphilosophie Hermann Cohens. (Cohen steht übrigens an falscher Stelle im Literaturverzeichnis.) Dass es jedoch diese Tradition ist, aus der dann später der - meines Erachtens von Deeg zu - breit ausgewertete Franz Rosenzweig seine vergleichsweise marginale Kenntnis jüdischen Wissens entnahm, erfährt der unkundige Leser nicht. Dieses Beispiel steht pars pro toto für zahlreiche weitere bedauerliche historische Lücken.

Warum das Buch hier dennoch eine Besprechung verdient, ist vielmehr die Tatsache, dass es überhaupt vorliegt. Gemeinhin gilt das Luthertum als theologisch Israel-vergessen, bis zurück zu Luthers unseligen Schriften gegen das Judentum. Dagegen eröffnet Deeg eine Möglichkeit, mit dem Instrumentarium, das von Luther in mehrfacher Brechung herrührt, eine neue Art des christlich-jüdischen Miteinanders zu beschreiben bzw. zu praktizieren. Dass es dieses immer wieder gab, deutet er in Nebensätzen an, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Exemplarisch sei hier die Frage nach dem - so nie praktizierten - vierfachen Schriftsinn genannt (330f). Er entwickelte sich im Christentum in ständigen Wandlungen von Origenes bis zum Ende des Mittelalters. Der jüdische Versuch der Adaption aus der Zeit der Kabbala ("Pardes") scheint eine Reaktion auf diese christliche Entwicklung gewesen zu sein. Gershom Scholem hat darauf hingewiesen, bei Deeg bleibt es eine nahezu unkommentierte Reminiszenz (331 Anm. 208). Dabei ist es historisch außerordentlich interessant zu beobachten, dass Beeinflussungen nicht ein- sondern mehrlinig verlaufen sind und es anscheinend wiederholte Phasen gelungener Interaktion gab.

Deswegen bleibt am Ende ein zwiespältiger Eindruck. Der Autor will viel, möglicherweise zu viel. Nicht alles gelingt. Und doch sind dem Buch viele Leserinnen und Leser zu wünschen, die nachher zu den Primärquellen greifen und ihr eigenes Studium beginnen - ganz im Sinne des Autors.

Görge K. Hasselhoff