Rezension über:

Julia Haack: Der vergällte Alltag. Zur Streitkultur im 18. Jahrhundert (= Menschen und Kulturen. Beihefte zum Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte; Bd. 6), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 317 S., ISBN 978-3-412-20147-0, EUR 38,90
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Rezension von:
Inken Schmidt-Voges
Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Inken Schmidt-Voges: Rezension von: Julia Haack: Der vergällte Alltag. Zur Streitkultur im 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/14364.html


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Julia Haack: Der vergällte Alltag

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Will man Einblick in das Alltagsleben vergangener Epochen erhalten, war und ist der Blick in die Überlieferungen der Gerichtstätigkeit eine der zentralen Zugriffsmöglichkeiten. Ein entsprechend konfliktträchtiges Bild bietet sich, ein entsprechend umfangreiches Forschungsfeld hat sich in den letzten 10-15 Jahren in diesem Bereich entwickelt - von der Historischen Kriminalitätsforschung über Konfliktforschung historisch-anthropologischer Ausrichtung und natürlich vertiefende Studien zu einzelnen Konfliktfeldern bzw. sozialen Zusammenhängen. Julia Haack unternimmt in ihrer Dissertation nun den Versuch, diesen Komplex nicht durch eine weitere Regional- oder Detailstudie zu erweitern. Sie will eine "Untersuchung alltäglicher Konflikte und Streitigkeiten zwischen Ehepartnern und in den Familien sowie zwischen Nachbarn und anderen Stadt- und Landbewohnern auf der Basis von Gerichtsakten verschiedener Provenienz" (9) liefern, und dabei soll die "Streitkultur komplexer behandelt" (9) werden.

Damit ergänzt sie die bisherigen Studien in zweifacher Weise. Zum einen zieht sie Gerichtsakten aus den Städten Freiburg/Br. und Stralsund heran, ergänzt durch Akten aus den Spruchtätigkeiten der Rostocker und der Tübinger Universität. Zum anderen untersucht sie mehrere Konfliktfelder, die aus den lebensweltlichen Zusammenhängen innerhalb einer Gemeinde eine gewisse Regelmäßigkeit in ihrer Wiederkehr und damit in ihrer "Selbstverständlichkeit" erkennen lassen.

Diese vier Komplexe der "Injurien", "Nachbarschaft", "Ehe" und "Erbe" werden in vier gesonderten Abschnitten behandelt, denen jeweils ein systematisch-übergreifender Abschnitt voran gestellt ist, in dem die bisherigen Forschungen zu diesem Bereich dargestellt werden. Es folgen jeweils unterschiedlich gewichtete Abschnitte mit konkreten Einzelfallschilderungen, in denen Konfliktparteien, deren Beweggründe, Strategien und Interessen aufgezeigt werden. Diese werden dann durch einen systematischen Abschnitt ergänzt, in dem nochmals unterschiedliche Aspekte des betreffenden Konfliktfeldes erörtert werden.

Diese sehr ambitionierte Herangehensweise stellt in der Tat ein Desideratum in der Frühneuzeitforschung dar, sie enthüllt in Haacks Umsetzung aber auch sogleich ihre Tücken. Die "problemzentrierte" Auswahl der 750 Fälle - Fälle, die nach Ansicht der Autorin "eine weiterführende Analyse" zuließen - bleibt zwischen den beiden methodischen Polen der Gerichtsbarkeitsforschung und der Konfliktkultur hängen. Einerseits erscheinen die präsentierten Einzelfälle mitunter wie ein Kaleidoskop der Vielfältigkeit individueller Lebensgestaltung, andererseits sind sie kaum mit den systematischen Abschnitten verbunden, in denen zur Veranschaulichung wieder neue Fälle angeboten werden.

So bleiben Zwischenergebnisse und -analysen oft holzschnittartig im Hinblick auf die jeweiligen Akteure, ihre sozialen Zusammenhänge und Netzwerke, ihre Strategien und Handlungsmuster. Aber auch die andere Seite, die der Gerichte, der Gerichtsbarkeit und ihrer ordnenden Funktion bleibt unterbeleuchtet. Denn eine Reflexion über die unterschiedlichen Kontexte, in denen hier Mediation und Streitschlichtung stattfand, sucht man vergebens. Ein städtisches Niedergericht funktioniert auf einer anderen Basis als die Spruchtätigkeit juristischer Fakultäten, hier wird mit Gesetzen und Rechtsbüchern operiert, dort oftmals nach Billigkeit erkannt. Die bisherigen Forschungen haben gezeigt, dass die Obrigkeit - und oftmals waren die Richter ja Nachbarn, und Nachbarn waren Richter - als "dritter Mann" eine ganz eigene Größe in diesen niedergerichtlichen Auseinandersetzungen darstellte. Ganz anders dagegen die Fakultäten, denen die Fälle nur als schriftliche Akten aus teilweise weit entfernten Gebieten zur Begutachtung vorgelegt wurden. All das hat mit Sicherheit Auswirkungen darauf, wie sich Kommunikation vor Gericht und deren Verschriftlichung ausprägt hat.

Im letzten Teil der Arbeit präsentiert Haack die Ergebnisse der einzelnen Konfliktfelder unter einem vergleichenden Zugriff, der sich nach systematischen Fragen gliedert. Hier steht die Analyse der regionalen und zeitlichen Aspekte, des Einflusses der Konfessionen, der Familien und des Sozialstatus im Zentrum. Dass Haack keine gravierenden regionalen und zeitlichen Unterschiede feststellen kann; dass konfessionelle Unterschiede (abgesehen von divergierendem Eherecht) keine Rolle spielen; dass die Verfahren der Spruchgremien im Schnitt deutlich länger dauerten als die vor städtischen Gerichten; dass die soziale Schichtung vor städtischen Gerichten in etwa die der städtischen Bevölkerung widerspiegelt, die Spruchtätigkeit aber hauptsächlich von den höheren Ständen in Anspruch genommen wird - all das deckt sich sehr gut mit den Ergebnissen der zahlreichen Studien zu einzelnen Aspekten. Die Prägnanz des Ansatzes und der Ergebnisse hätte sicherlich noch deutlicher konturiert werden können, wenn die aktuelle Literatur für die Drucklegung stärker berücksichtigt worden wäre, so etwa die Arbeiten von Andreas Holzem, Alexandra Lutz, Stefan Brakensiek oder Dana Cerman-Štefanová.[1] Letztlich zeigt die große zeitliche Dichte, in der diese Arbeiten mit der Abfassung der hier besprochenen Dissertation stehen, wie nahe die Verfasserin an den Themen der Zeit steht.

Somit ist der Autorin das große Verdienst zuzuerkennen, einen komparatistischen Blick auf die "Streitkultur" eröffnet zu haben, die über die Eingrenzung auf Straf- und Kriminalrecht oder einzelne Konfliktfelder - beispielsweise die Ehekonflikte - hinausgeht. Es ist ja gerade die enge Verflechtung all dieser Bereiche miteinander, die den Reiz und die Tiefendimension dieses Forschungsfeldes im Hinblick auf lebensweltliche Strukturen ausmachen. Und die Arbeit sollte als Appell verstanden werden, der sozialen und juristischen Praxis der Niedergerichtsbarkeit, ihrer Vielfalt, ihrer tiefen Verankerung in den lebensweltlichen Zusammenhängen die gleiche Intensität an systematischer Erforschung zukommen zu lassen, wie dies in den letzten Jahrzehnten der Höchstgerichtsbarkeit zuteil wurde.


Anmerkung:

[1] Andreas Holzem: Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570-1800, Paderborn 2000; Alexandra Lutz: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006; Stefan Brakensiek (Hg.): Generationengerechtigkeit? Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500-1850, Berlin 2006; Dana Cerman-Štefanová: Alter und Generationenbeziehungen in Böhmen. Zum Ausgedinge in nord- und südböhmischen Dörfern in der Frühen Neuzeit, in: Ehmer, Josef (Hg.): Das Alter im Spiel der Generationen, Wien 2000, 231-258.

Inken Schmidt-Voges