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Jürgen Dendorfer: Neues zur "Verfassungsgeschichte" im Hochmittelalter? Einführung, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/forum/neues-zur-verfassungsgeschichte-im-hochmittelalter-119/

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Neues zur "Verfassungsgeschichte" im Hochmittelalter?

Einführung

Von Jürgen Dendorfer

Wenige Themen beschäftigten die mittelalterliche Geschichtsforschung Deutschlands im vergangenen Jahrhundert mehr als die "Verfassungsgeschichte". [1] Auf älteren Traditionen fußend wurde sie nach dem zweiten Weltkrieg durch landesgeschichtliche Zugänge neu akzentuiert. Vor allem der Konstanzer Arbeitskreis und seine wirkmächtigen Protagonisten (Theodor Mayer, Walter Schlesinger, Helmut Beumann) trugen dazu bei, dass die alte verfassungsgeschichtliche Meistererzählung des 19. Jahrhunderts in gewandelter Gestalt auch im 20. Jahrhundert prägend blieb. [2] In den letzten Jahrzehnten hat sich dies verändert. Schon den Begriff "Verfassungsgeschichte" wird man heute nur noch mit spitzen Fingern notieren und das Deutungspotential von älteren Leitkategorien der Analyse - wie "Personenverbandsstaat", "Territorialisierung" oder das "Lehnswesen" - ist im Licht jüngere Ansätze erst noch neu zu bestimmen. Häufig bleiben nach dem Griff zu den verfassungsgeschichtlichen Klassikern an Stelle der erhofften sicheren Antworten mehr offene Fragen als zuvor.
Die jüngere Forschung blickt auf das Zusammenwirken von gelebter und gedachter Ordnung ("Ordnungskonfigurationen"). [3] Beschrieben werden personale Bindungen, Konflikte oder die Inszenierung und Ritualisierung politischer Kommunikation. Sie erhebt nicht mehr den Anspruch, ein umfassendes Regelsystem erkennen zu wollen, fordert die europäische Kontextierung der Entwicklungen im Reich ein und hinterfragt den wissenschaftsgeschichtlichen Ort des eigenen Forschens ebenso wie die konzeptionellen Implikationen des verwendeten Begriffsinstrumentariums.
Neben und mitunter ohne Bezug zu diesen grundsätzlichen Erwägungen wird jedoch in zahllosen regionalen Studien das ältere verfassungsgeschichtliche Paradigma fortgeschrieben, differenziert oder durch neue Überlegungen abgelöst. Nur wenig jedoch fließt aus diesen "dichten" Beschreibungen in der besten Tradition landesgeschichtlicher Forschung in die übergreifenden Diskussionen ein, und vice versa scheinen diese Arbeiten mitunter nur verzögert auf deren Ergebnisse zu reagieren.
Ziel dieses Forums ist es, methodisch hervorragende Studien vorzustellen, und auf diese Weise die Wahrnehmung ihrer Ergebnisse über die jeweiligen landesgeschichtlichen Diskussionszirkel hinaus zu fördern. So wird etwa Gerhard Lubichs Habilitationsschrift "Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im Frühmittelalter (6.-11. Jahrhundert)" die gewohnte Darstellung adeliger Herrschafts- und Gruppenbildung nachhaltig verändern. Durch einen semantischen Zugriff relativiert der Autor die Bedeutung der "Verwandtschaft" als vorgeblich wirkmächtigster personaler Bindung adeliger Gruppenbildung und stellt die zum Handbuchwissen gewordene These Karl Schmids des Wandels von der kognatisch offenen Sippe des Früh- zum agnatisch verdichteten Adelsgeschlecht des Hochmittelalters in Frage. Prüfstein für eine notwendige Diskussion des anregenden Buches werden Fallstudien sein. Für Thüringen hat Helge Wittmann in einer begrifflich präzisen, klar strukturierten und kenntnisreichen Studie unser Bild des Adels im "Schatten der Landgrafen" wesentlich erweitert. Christof Paulus wendet sich in seiner Dissertation dem "Amt" des bayerischen Pfalzgrafen zu und beschreibt auf der Grundlage eines reflektierten, "offenen" Amts- und Institutionenbegriffs zeitlich und räumlich weit über Bayern hinaus die Entwicklung des Pfalzgrafenamtes vom 9. bis ins 13. Jahrhundert. Zwei jüngere Studien widmen sich mit den rheinischen Erzbischöfen des 12. Jahrhunderts fraglos den wichtigsten geistlichen Reichfürsten. Jörg Müller schreibt dezidiert eine "Biographie" Erzbischof Alberos von Trier (1131-1152) und lotet mögliche individuelle Züge seines Protagonisten durch eine dichte Analyse seines Handelns im politischen und sozialen Umfeld aus. Dabei gelingt ihm eine Fülle von landes- und reichsgeschichtlich weiterführenden Beobachtungen. Stefan Burkhardt fragt im methodisch innovativen Zugriff nach "den Bildern, Trägern und Funktionen erzbischöflicher Herrschaft" in Mainz und Köln zur Barbarossazeit. Er erschließt die Bourdieuschen Kapitalsorten für eine vergleichende Analyse der rheinischen Bischofskirchen und bietet damit ein ambitioniertes Beispiel für den wichtigen Transfer kulturwissenschaftlicher Theorieangebote auf klassische Themen.
Die Bandbreite der gewählten Ansätze, die alle legitim erscheinen, könnte kaum vielfältiger sein. Sie zeigt, dass es Selbstverständlichkeiten bei der Beschreibung etablierter Ordnungen im Hochmittelalter nicht mehr gibt, dass "der Primat einer nicht systematisch definierbaren, sondern gemeinsam geglaubten Verfassungsgeschichte" [4] auch in landesgeschichtlich geprägten Detailstudien mehr und mehr abgelöst wird von einer reflektierten, geradezu spannenden Suche nach adäquaten Methoden.

Anmerkungen:
[1] Bernd Schneidmüller: Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: ZfG 53 (2005) 485-500.
[2] Stefan Weinfurter: Standorte der Mediävistik. Der Konstanzer Arbeitskreis im Spiegel seiner Tagungen, in: Peter Moraw / Rudolf Schieffer (Hgg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen; 62), Ostfildern 2005, 9-38.
[3] Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hgg.): Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen; 64), Ostfildern 2006.
[4] So Schneidmüller (wie Anm. 1), 487 über die Diskussionen des Konstanzer Arbeitskreises in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens.

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