Rezension über:

Martin Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches. Hrsg. von Paul Needham in Verbindung mit Julie Boghardt (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens; Bd. 42), Wiesbaden: Harrassowitz 2008, 536 S., ISBN 978-3-447-05774-5, EUR 98,00
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Rezension von:
Christoph Reske
Institut für Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Reske: Rezension von: Martin Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches. Hrsg. von Paul Needham in Verbindung mit Julie Boghardt, Wiesbaden: Harrassowitz 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/15122.html


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Martin Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches

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Martin Boghardt (1936-1998) war in der Welt des Buches ein bekannter und geschätzter Wissenschaftler, der als Bibliothekar eine der wenigen ausschließlichen Forschungsstellen für das Buch in Deutschland inne hatte. An der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel beschäftigte er sich mit einem der ureigenen Forschungsbereiche der Buchwissenschaft, der "analytischen Druckforschung". Deren Gegenstand und Ziel formulierte Boghardt 1995 äußerst prägnant mit folgenden Worten: "Die analytische Druckforschung beschäftigt sich mit dem gedruckten Buch als einem materiellen, handwerklich-technischen Produkt und untersucht dessen Entstehungsweise anhand seines Erscheinungsbildes. Sie ist eine Indizienforschung, eine Archäologie des gedruckten Buches. Ihr Ziel ist es, die Funktion des Buchdrucks als eines Mediums der Textvermittlung zu erhellen, und zwar sowohl im Einzelfall als auch in Gegenüberstellung der Einzelfälle und damit im Verlaufe seiner Geschichte." (100)

Boghardts zahlreiche, teils an entlegenen Stellen veröffentlichten Texte wurden nun in einem repräsentativen, handwerklich schön gemachten Band von Paul Needham und Boghardts Witwe Julie Boghardt herausgebracht und stellen damit eine Ergänzung zu seinem 1977 erschienenen systematischen Werk "Analytische Druckforschung" dar (38). [1]

In seinem englischsprachigen, einfühlsamen und höchst lesenswerten Vorwort würdigt der ebenfalls renommierte US-amerikanische Frühdruckforscher Paul Needham die Lebensleistung dieses Ausnahmewissenschaftlers (9-22). Boghardt wollte weder im Mittelpunkt stehen, noch seine Publikationsliste mit redundanten Beiträgen aufblähen - wie dies ja leider allzu oft im Wissenschaftsbetrieb erwartet wird. Boghardt publizierte nur dann etwas, wenn er tatsächlich etwas Substantielles zu sagen hatte (Needham, 9). Die Übersetzung von Needhams Vorwort ins Deutsche besorgte Monika Estermann, was an der entsprechenden Stelle im Text nicht deutlich gemacht wird, so dass der Eindruck entsteht, es handele sich hier um ein eigenständiges Vorwort von Estermann (23-38).

Ansonsten hinterlässt der Band einen außerordentlich sorgfältigen Eindruck. Aus der editorischen Notiz von Julie Boghardt wird deutlich, wie sehr die Herausgeber bemüht waren, den Intentionen des Autors gerecht zu werden (39-44). Bereits 1991 fasste Boghardt den Plan, seine Aufsätze in dieser Weise herauszubringen, so dass die von ihm gewünschte Struktur vorgegeben war, hier allerdings durch seine in den 1990er Jahren erschienenen Beiträge aktualisiert. Die Herausgeber konnten somit 20 Aufsätze berücksichtigen und fügten lediglich ein weiteres Kapitel hinzu: "Mainzer Frühdruck".

Der Band beginnt in dem mit "Das Medium des historischen Buchdrucks" überschriebenen Kapitel mit dem Kerngedanken Boghardts: "Der Buchdruck und das Prinzip des typographischen Kreislaufs" (49-74). Beim typographischen Kreislauf geht es um das Bewusstsein der ständigen Wiederkehr der "von Druckform zu Druckform voranschreitende Abfolge von Setzen, Drucken, Ablegen und weiterem Setzen mit Hilfe eines [...] begrenzten Letternvorrats." (Needham, 19). In einem Druck der Handpressenzeit (ca. 1450 bis etwa 1800) begegnen uns immer wieder dieselben Typen, auf die auch während des Drucks Korrekturvorgänge einwirken können. Hatte man die gewünschte Auflage von der Druckform gedruckt, wurde diese abgelegt, eine spätere Erhöhung der Auflage bedurfte daher einen Neusatz, der wiederum neue Fehler beinhalten konnte.

Im zweiten Kapitel "Druckerfassung und Druckbeschreibung" finden sich verschiedene Aufsätze, die die bibliographischen Besonderheiten eines Druckes betreffen (75-191). Der Rahmen spannt sich von der Darstellung, wie man das verwendete Buchformat feststellen kann ("Formatbücher und Buchformat", 78-101), über die Thematisierung der Begriffe, Doppeldruck, Zwitterdruck, Raubdruck und Nachdruck, bis hin zu der Entwicklung der "druckanalytischen Methode".

Gerade letztere ist das wesentliche Verdienst Boghardts. In seinem Beitrag "Druckanalyse und Druckbeschreibung" (103-129) skizziert er auf zwei Seiten diese von ihm zur Anwendbarkeit entwickelten grundlegenden buchwissenschaftlichen Methode. Die druckanalytische Methode "ist der Vergleich aller zu Verfügung stehenden Exemplare eines zusammenhängenden Produktions- und Publikationsprozesses, den sie in seinen empirisch greifbaren Befunden zu erfassen und im Hinblick auf deren Zustandekommen und deren textliche Implikationen zu analysieren sucht. Sie ermittelt bibliographische Merkmale, sie erörtert Entstehungszusammenhänge, sie verweist auf Konsequenzen für den gedruckten Text. Die Druckanalyse vollzieht sich demnach auf drei Ebenen, die man als bibliographische Erfassung, als bibliogenetische Erschließung und als textbezogene Deutung bezeichnen kann [...]" (104). Nur die erste Stufe liefert objektiv nachprüfbare Ergebnisse, also die bibliographischen Angaben des Druckes, Struktur der Lagenbildung und deren Störungen, das Bild des Satzes, Typen, Zierwerk und des Einbandes. Die bibliogenetische Erschließung versucht aus diesen Kriterien die Datierung und Firmierung zu überprüfen bzw. zu ermitteln und dann die gesamte Drucklegung zu rekonstruieren, wobei es hier insbesondere um den typografischen Kreislauf, die Korrektur und um die Frage von Doppelsatz bzw. Doppeldruck geht (105). Solange die bibliogenetische Erschließung ohne ergänzende Sekundärzeugnisse vorgenommen werden muss, bleibt sie nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Dies gilt auch für die dritte Stufe, die zu klären sucht, "ob und gegebenenfalls wie der Übertragungsvorgang eines Textes in den Druck, die Bibliogenese also, Rückwirkungen auf die Textgestalt selbst ausgeübt hat." (105).

Diese beiden letzten methodischen Stufen überschreiben denn auch das dritte Kapitel "Phasen der Bibliogenese und Textumsetzung", in dem in sechs Beiträgen die Theorie in die Praxis umgesetzt wird (193-340). Auf ein schönes Beispiel verweist Paul Needham bereits in seinem Vorwort (22): Die gründlichen textkritischen Untersuchungen der 1886 von Lachmann-Muncker herausgegebenen Lessing-Ausgabe [2] wurden noch 1954 derart gelobt, dass auf diesem Gebiet nichts mehr zu forschen sei. [3] In der konsequente Anwendung seiner Methode am Text der "Minna von Barnhelm" kommt Boghardt hingegen zu dem Ergebnis, dass dieser "am Schluß [...] einem Nachdruck [folgt], im umfangreichen Hauptteil [...] dem Nachdruck eines Nachdrucks und am Anfang sogar dem Nachdruck des Nachdrucks eines Nachdrucks." (280).

Diesem Exempel aus dem 18. Jahrhundert, folgen drei weitere Beispiele aus dieser Zeit, die unter der Überschrift "Relative Chronologie", dem vierten Kapitel, eingeordnet sind (341-390). Die dortigen Beiträge behandeln Drucke, deren erste Herstellung und Reihenfolge nicht klar war, deren Abhängigkeiten von Boghardt jedoch geklärt werden konnten, so dass die einzelnen Ausgaben gleichsam einer, wie Needham dies treffend ausdrückt, archäologischen Schicht angehören (21).

Im fünften Kapitel "Mainzer Frühdruck" (391-512), werden in fünf Beiträgen, Probleme der frühesten Drucke mit der druckanalytischen Methode angegangen. Traditionell betrachtet man in der Buchwissenschaft gedruckte Bücher des 15. Jahrhunderts als eigenen Gegenstand - was mit dem Begriff Inkunabeln unterstrichen wird. Boghardt kann jedoch aufzeigen, dass die von ihm beschriebenen Mechanismen für alle gedruckten Bücher der Handpressenzeit gelten, auch für Inkunabeln.

Abgeschlossen wird der Band mit einer Bibliographie der Veröffentlichungen von Boghardt und über ihn sowie einer Liste der von ihm untersuchten Drucke (513-536).

Hier wird ein Buch vorgelegt, das nicht nur dezidiert eine wichtige buchwissenschaftliche Methode theoretisch beschreibt, sondern diese auch mit zahlreichen Beispielen aus der gesamten Handpressenzeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert praktisch anwendet und dadurch zahlreiche Erkenntnisse zu den besprochenen Drucken und auch den durch sie tradierten Texten liefert. Hierfür ist den Herausgebern nachdrücklich zu danken.

Welchen Nutzen kann der Historiker aus diesem Band ziehen? Dieses Werk ist für alle die wichtig, die ihre Erkenntnisse auf gedruckte Texte der Handpressenzeit gründen. Es hilft den Blick zu schärfen für die Beeinflussungen, der ein gedruckter Text im Laufe seiner Überlieferung alleine durch seine Herstellung unterworfen ist. Die Intention eines historischen, gedruckten Textes kann ohne das hier beschriebene Vorgehen nicht sicher ermittelt und nach heutigem wissenschaftlichen Stand aufbereitet werden.

Für die Buchwissenschaft ist zu wünschen, dass die "analytische Druckforschung" mit dem vorliegenden Band wieder mehr Aufmerksamkeit erhält und weitere Forschungen in dieser Richtung angestoßen werden. In Zeiten der Darstellung von großen Zusammenhängen, sollte man die Details nicht aus dem Auge verlieren.


Anmerkungen:

[1] Martin Boghardt: Analytische Druckforschung. Ein methodischer Beitrag zu Buchkunde und Textkritik. Hamburg 1977.

[2] Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3. Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Bd. 1. Stuttgart 1886.

[3] Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hrsg. von Paul Rilla. Bd. 1. Berlin 1954, 36.

Christoph Reske