Rezension über:

Jörg Lesczenski: August Thyssen 1842-1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens; Bd. 81), Essen: Klartext 2008, 413 S., ISBN 978-3-89861-920-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Jörg Lesczenski: August Thyssen 1842-1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen: Klartext 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/14974.html


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Jörg Lesczenski: August Thyssen 1842-1926

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Der Titel ist mit Bedacht gewählt: "Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers". Was mit "Wirtschaftsbürger" gemeint ist, erschließt sich, wenn man diesen Begriff dem des "Bildungsbürgers" gegenüberstellt. So wie sich ein Bildungsbürger über Bildung definiert, definiert sich der "Wirtschaftsbürger" eben über "Wirtschaft". Und das gilt für August Thyssen durch und durch. Die "Wirtschaft": Der Aufbau seines Industrieimperiums von seinen ersten Anfängen an bis zu einem der größten deutschen Konzerne, das ist der Inhalt seines Lebens, der alles, aber auch wirklich alles durchdringt, dem alles andere nebengeordnet wird. Und dieses "Alles" nachzuzeichnen, die ganze "Lebenswelt" Thyssens in allen ihren wirtschaftlichen und politischen, gesellschaftlichen und kulturellen, familialen und privaten Verästelungen auf der Basis aller irgendwie auffindbaren Quellen, hat sich der Verfasser in seiner Dissertation (Ruhr-Universität Bochum) zur Aufgabe gemacht.

Die Aufgabe war erschwert. Es existieren keine autobiografischen Selbstzeugnisse August Thyssens, sodass alles auf der Basis anderer Quellen erarbeitet werden musste. Den Beständen des ThyssenKrupp-Konzernarchivs kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Die Fritz-Thyssen-Stiftung hat im Übrigen auch die Studie gefördert.

So erfolgreich August Thyssen als Großunternehmer war, so wenig erfolgreich war er in seinen privaten Lebensentwürfen. Es blieb einfach keine Zeit für private Dinge. Seine Ehe wurde geschieden, für seine vier Kinder hatte er nie Zeit. So entwickelte sich ein höchst ambivalentes, zum Teil auch hasserfülltes wechselseitiges Verhältnis zwischen dem Vater und seinen Kindern, aber auch unter den Kindern selbst. Der Vater, der bis ins hohe Alter (1842-1926) die Zügel fest in den Händen hielt - manche Züge sind tyrannisch -, scheiterte letztlich in seinem privaten Lebensentwurf, der der Lebensentwurf vieler Industrieller seiner Zeit ist. Es gelang ihm nicht, eine Familiendynastie zu begründen, mit dem von ihm äußerst repräsentativ ausgebauten Unternehmerschloss Landsberg als Mittelpunkt.

Wie akribisch der Verfasser immer seine Quellen verfolgt, sie in übergreifende und sehr verschiedene Zusammenhänge einbettet (eben "Lebenswelt"), dafür mag hier das Beispiel Schloss Landsberg genügen. Er hat sich unter vielem anderen die Mühe gemacht, nicht nur Rechnungen und Baupläne zu analysieren. Er geht den Künstlern nach. Für wen haben sie sonst gearbeitet? Er untersucht die Einrichtung. Inwieweit entspricht sie dem generellen Zeitgeschmack? Ist sie typisch für die Selbstdarstellung eines durchaus sehr bürgerstolzen Großindustriellen, der August Thyssen immer war? Er legte sich zwar in Anlehnung an die tonangebenden alten Eliten des Kaiserreiches ein Schloss zu. Aber den mitunter aristokratischen Allüren seiner großbürgerlichen Kinder begegnete er mit tiefem Misstrauen. Und ganz typisch für August Thyssen auch: Die geografische Nähe zu seinen Betrieben war ihm wichtiger als die zu den gesellschaftlichen Mittelpunkten der kaiserzeitlichen Welt des Ruhrgebietes. Noch in einem unterscheidet sich das Schloss: Das Arbeitszimmer ist in den Bereich des privaten Lebens integriert und nicht - wie bei anderen Industriellenschlössern - eingebunden eine Treppe tiefer in die repräsentativen Gesellschaftsräume. Für den Wirtschaftsbürger August Thyssen war eben Privates und Geschäftliches immer ein Ganzes. Aber solche Bezüge überhaupt zum Thema zu machen: Daran sieht man, wie weit umfassend Lesczenski seine Aufgabe begreift.

Er geht auch sehr vorsichtig, sehr abwägend vor. Er vermeidet durchgängig Wertungen. Das Wort "tyrannische Züge" stammt vom Rezensenten. Der Verfasser arbeitet sorgfältig auch die wenig schönen Charakterzüge - soweit es die Quellen erlauben - heraus, aber auch ebenso sorgfältig trägt er immer den gegenläufigen Charakterzügen Rechnung, z.B. dass der Vater durchaus sah, zu wenig Zeit für seine Kinder gehabt zu haben, und dass er sich immer wieder bemühte, trotz aller wechselseitigen Hassgefühle, Brücken zu bauen, insbesondere zu dem in seinen Augen besonders missratenen Sohn August Thyssen junior.

Ebenso vorsichtig geht der Verfasser auch an politische Dinge heran. Wie leicht wären doch politische Urteile. Da war z.B. die Verbundenheit zum Zentrumsführer Matthias Erzberger so eng, dass Thyssen zeitweise sich nicht nur wöchentlich mit Erzberger besprach, sondern weil es Thyssen "allmählich peinlich wurde, Erzbergers Gefälligkeiten [...] weiter unentgeltlich anzunehmen" ihm drei Aufsichtsratsposten in seinen Unternehmen verschaffte und sich darüber hinaus entschloss, "für seine Arbeit ein jährliches Entgelt von 40.000 Mark zu zahlen." (268)

Mit dieser Verbundenheit war es dann 1917 vorbei, als Erzberger sich führend an der bekannten Friedensresolution des Reichstages beteiligte. Der Vorschlag eines Friedens ohne Gebietsabtretungen und Kontributionen vertrug sich nun einmal nicht mit den sehr weitgehenden expansionistischen Vorstellungen eines August Thyssen. Die im Übrigen zeittypischen Vorstellungen gingen erstaunlich weit: Nicht nur territoriale Abtretungen, denen nach einem gewonnenen Krieg nach damaligem Völkerrecht nichts entgegenstand, sondern sogar Eingriffe in das durch Völkerrecht (Haager Friedenskonferenzen) geschützte Privateigentum befürwortete Thyssen - natürlich zugunsten seiner Stahlwerke. Anhänger der These, die in Thyssen einen typischen Vertreter der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals sehen wollen, finden reiches Material. Aber sie müssen dann auch konstatieren: Thyssen hielt sich fern von Tirpitz und den Kriegsinitiativen des Alldeutschen Verbandes.

Vieles von dem was Lesczenski aufarbeitet - auch gerade die so sensiblen Interaktionen zwischen Politik und Großindustrie - ist nicht neu. Neu dagegen sind die vielen Ergänzungen, Erweiterungen, Differenzierungen. Naturgemäß erfährt der Leser - gerade im Trend relativ neuer lebensweltlich-biografisch ausgerichteter Forschungsansätze - zu Themen der privat-familiären Lebenswelt Thyssens mehr.

Womit wir bei der methodischen Einordnung des Forschungsstands wären. Diesen breitet der Verfasser in einer über 80-seitigen Einleitung aus, die zum Verständnis des Buches und zu dessen Ergebnissen nicht viel beiträgt. (Häufig das Problem von Dissertationen, die nicht zuletzt Qualifikationsarbeiten sind.) Trotz aller theoretischen Ausführungen am Anfang rekurriert der Verfasser im Hauptteil seiner Arbeit nicht auf die von ihm angestoßenen theoretischen Diskurse, nicht einmal - seltsam - in den Schlussbetrachtungen, die sich als eine anmerkungsarme vorzügliche Zusammenfassung des eigentlichen Anliegens des Verfassers erweisen: Lesczenskis Arbeit will im Großen und Ganzen die Lebensgeschichte August Thyssens "erzählen" ("erzählen ist hier methodisch verwendet). Er ordnet sie dabei umfänglich - in alle erschließbaren lebensweltlichen Bezüge ein. Dabei hält sich der Verfasser erfreulich zurück mit Wertungen und politisch interessierten Deutungen. Die Methodensicherheit und -vielfalt zeigt sich weniger in der Fähigkeit zum theoretischen Diskurs als in der konkreten Darbietung der Ergebnisse der auf Vollständigkeit angelegten Quellenrecherche. So sollte es auch sein.

Manfred Hanisch