Rezension über:

Helen Wanke: Zwischen geistlichem Gericht und Stadtrat. Urkunden, Personen und Orte der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Straßburg, Speyer, und Worms im 13. und 14. Jahrhundert (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; 119), Mainz: Verlag der Gesellschaft für Mittelrheinische Kirchengeschichte 2007, 480 S., ISBN 978-3-929135-55-8, EUR 39,00
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Rezension von:
Kerstin Hitzbleck
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Kerstin Hitzbleck: Rezension von: Helen Wanke: Zwischen geistlichem Gericht und Stadtrat. Urkunden, Personen und Orte der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Straßburg, Speyer, und Worms im 13. und 14. Jahrhundert, Mainz: Verlag der Gesellschaft für Mittelrheinische Kirchengeschichte 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/13521.html


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Helen Wanke: Zwischen geistlichem Gericht und Stadtrat

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Recht ist nicht voraussetzungslos, institutionell ungebunden und irgendwie im freien Raum der Ideen schwebend: Es unterliegt permanent gesellschaftlicher Aktualisierung und pragmatischer Interpretation. Umso größer ist die Bedeutung des sozialen Ortes von Recht. Ein interessantes Untersuchungsfeld bietet das mittelalterliche Rechtsleben, das von einer Vielzahl parallel bestehender und konkurrierender Gerichte und Rechtsordnungen mit divergierenden Zuständigkeiten und prozessualen Gewohnheiten geprägt war. Dabei gehörte der selbstverständliche Kontakt mit den Institutionen des Rechts schon früh zum städtischen Alltag, wenn etwa Privatleute im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit ihre Rechtsgeschäfte dauerhaft und rechtssicher dokumentieren lassen wollten. Im Reich war dies durch Ausstellung besiegelter Urkunden über das Rechtsgeschäft vor allem Aufgabe der Träger kirchlicher und weltlicher Herrschaft.

Helen Wanke hat in ihrer Tübinger Dissertation die Entwicklung dieser Form von pragmatischer Schriftlichkeit anhand dreier Bischofsstädte im Süden des Reichs - Straßburg, Speyer und Worms - nachvollzogen. "Bei wem ließen Stadtbewohner im 13. und 14. Jahrhundert, wo und wie ihre Rechtsgeschäfte beurkunden?" (14) steht als Eingangsfrage am Anfang ihrer Überlegungen zur sozialen, personellen, räumlichen und diplomatischen Verortung von Privaturkunden aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Aus überlieferungstechnischen Gründen konzentriert sie sich auf das Gericht des Stadtrats auf der einen, des bischöflichen Offizials auf der anderen Seite - ohne damit einen überholten Antagonismus "Bürgertum versus Klerisei" wiederaufleben lassen zu wollen. Grundlage ihrer Arbeit sind die mit den Mitteln einer relationalen Datenbank erfassten und ausgewerteten, unedierten Privaturkunden von Speyer (Teil II) und das bereits edierte Material für Straßburg (Teil I), das nicht in einer Datenbank erfasst wurde. Der Ausblick auf Worms (Teil III) erfolgt allein auf der Basis der Fachliteratur. Ausdrücklich nicht Ziel der Arbeit ist die Erarbeitung von Urkundenlandschaften, Schreibschulen oder Kanzleien: Im Fokus der Untersuchung steht nicht zuletzt die Wahl der Rechtsorte durch die Bürger als sozusagen topografischer Ausdruck der sich wandelnden Machtverhältnisse.

Nach einer umfangreichen Einleitung (13-52) folgt in drei vielschichtig untergliederten Teilen die Untersuchung des Rechtslebens in den einzelnen Städten. Die Teile I (Straßburg, 53-226) und II (Speyer, 227-379) bestehen jeweils aus zwei Blöcken, deren Teil A sich in chronologischer Folge mit praktischen Aspekten der Gerichtssituation - Ereignisgeschichte der Städte, Zeugen, Urkundenaussteller, Urkundsorte, Inhalte - beschäftigt, während Teil B "thematische Ausführungen" bringt. Teil III (Worms, 380-396) konzentriert sich auf Aspekte der Stadttopografie und ihrer Bedeutung für die Nutzung der einzelnen Gerichte.

Der Zugriff der Autorin auf ihr Material divergiert. Die anhand der edierten Urkunden aus Straßburg dargestellte Entwicklung der Beurkundungstätigkeit folgt der politischen Geschichte der Stadt und zeigt anhand von Beispielen die Wandlungen in der Nutzung der Gerichte auf. Dabei werden Änderungen im Formular der Urkunden ebenso untersucht wie die Verortung der Gerichte in der Stadt und die Frequenz der Nachfrage. Eine Vernetzung mit anderen Arbeiten etwa zum Thema städtischer Gerichtsbarkeit findet dagegen nicht oder nur unzureichend statt. Auch der innerstädtische Kampf zwischen Bischof und Stadt, ein zentrales Thema mittelalterlicher Stadtgeschichte überhaupt, wird am Straßburger Beispiel ereignisorientiert geschildert, doch nicht in die Forschungslage integriert. Die "thematischen Ausführungen" des Kapitels über Straßburg befassen sich mit den am Beurkundungsverfahren beteiligten Personen - Rechtsgelehrte, Notare, Schreiber, Chronisten. Die reiche und aktuelle Literatur zu den Gelehrten in mittelalterlicher Kirche und Rechtsleben hat Wanke nicht herangezogen, sodass ihre Ausführungen solitärhaft neben anderen Studien zum selben Themenkreis stehen.

Teil II ist aus den unedierten Speyerer Privaturkunden gearbeitet. Wanke hat von den 458 oder 459 (beide Zahlen 283) sie interessierenden Stücken aus der Zeit vor 1300 251 in einer Datenbank erfasst. Der Aufbau orientiert sich am ersten Teil der Arbeit über Straßburg, doch konnte das Material durch die digitale Aufbereitung und damit thematische Abfragbarkeit stärker nach inhaltlichen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Leider werden auch hier oft additiv einzelne Beobachtungen aneinandergereiht. Die "thematischen Ausführungen" dieses Teils, die sich mit Fragen zur Stadträumlichkeit und städtischer Repräsentation beschäftigen, nehmen kaum Bezug auf angrenzende Forschungsgebiete der Stadtgeschichte, etwa die Stadttopografie oder die Ritualforschung. Besonderes Augenmerk wird auf die Entstehung und Bedeutung des Rathauses als zentraler Ort bürgerlicher Selbstdarstellung gelegt. Wenn Wanke interpretiert, "dass der erfolgreichen Entwicklung der Stadt Speyer im 13. und 14. Jahrhundert ein günstiges Zusammenwirken von Verfassung, Beurkundung und Topographie zu Grunde liegt" (378), möchte man sich allerdings fragen, was zuerst da gewesen ist.

Im abschließenden Kapitel (397-410) stellt Wanke die Ergebnisse ihrer Arbeit zusammen. Aus der generellen Beliebtheit des bischöflichen Offizials für freiwillige Beurkundungen kann sie schließen: "Die wahre Funktion des Offizialats war die der Beurkundungsinstanz für die Kontakte zwischen Weltlichen und Geistlichen in der Stadt und der Umgebung." (397) Weiterhin kann sie den Dom bzw. den Dombereich in allen drei Städten als wichtigen Rechtsort nicht nur für den Stadtherrn, sondern auch für die Bevölkerung aufzeigen. Als zentrale These ihrer Arbeit stellt sie die Bedeutung heraus, welche die Existenz eines Rathauses für die Nachfrage des bürgerlichen Rates als Gerichtsort hatte. "War eine Beurkundungsinstanz eindeutig örtlich verankert, wussten die Stadtbewohner, wohin man sich wenden konnte." (405) Eine Interpretation, die vermutlich zu kurz greift. Welche Bedeutung für das Untersuchungsergebnis hat etwa die Tatsache, dass "stets von geistlicher Seite viel mehr überliefert ist als von weltlicher" (16)? Stellte der Bischof als verlässliche und stabile Rechtsinstanz mit der römischen Kirche im Rücken schlicht eine bewährte Alternative zu den sich entwickelnden Organen der städtischen Selbstverwaltung dar? Was hätte der Vergleich mit einer Stadt unter weltlicher Stadtherrschaft gebracht? An wen wandte man sich dort?

Die Arbeit vereint zweifellos interessante Ansätze und Beobachtungen zur städtischen Rechtspraxis und behandelt mit der Untersuchung der sich wandelnden städtischen Rechtsorte einen zentralen Punkt bürgerlicher und herrscherlicher Repräsentation. Auch für prosopografische Studien zu Speyer und Straßburg bietet die Studie zahlreiche Anknüpfungspunkte. Doch vernetzt Wanke die Ergebnisse zu wenig mit anderen Studien zur mittelalterlichen Stadtgeschichte. Darüber hinaus belastet auch die uneinheitliche Aufbereitung des Materials in den drei Teilen des Buches die Vergleichbarkeit der Untersuchungsergebnisse zu den einzelnen Städten. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass die Autorin angesichts der Komplexität ihrer Fragestellung zu oft Zuflucht zu vermeintlich nahe liegenden Erklärungsansätzen genommen hat.

Kerstin Hitzbleck