Rezension über:

Franziska Bruder: "Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben". Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929-1948 (= Dokumente - Texte - Materialien; Bd. 64), Berlin: Metropol 2007, 299 S., ISBN 978-3-938690-33-8, EUR 19,00
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Rezension von:
Frank Golczewski
Professur für Osteuropäische Geschichte, Historisches Seminar, Universität Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Frank Golczewski: Rezension von: Franziska Bruder: "Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben". Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929-1948, Berlin: Metropol 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/10/12734.html


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Franziska Bruder: "Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben"

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Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) ist für alle Kenner der jüngeren osteuropäischen Geschichte eine feste Größe - ob man sie nun als eine der militantesten nationalistischen Organisationen des letzten Jahrhunderts hasst oder bewundert. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis zu der hier vorgelegten Arbeit der Berliner Historikerin Franziska Bruder - sieht man von Arbeiten des ukrainischen Archivars Anatolij Kentij und dem primär die Ideologie beschreibenden Buch von Tomasz Stryjek ab - keine wissenschaftliche Monografie gegeben hat, die sich mit dieser Gruppe beschäftigte. Entstanden etwa zeitgleich und damit auch verwandt mit den italienischen Faschisten und anderen nationalistischen Gruppierungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbunden und danach - den Kampf gegen die Sowjetunion fortsetzend - bemüht, diesen Makel durch die Liaison mit den \"antibolschewistischen\" Amerikanern vergessen zu machen, haben es die ukrainischen Nationalisten in den Anfangsjahren der unabhängigen postsowjetischen Ukraine geschickt geschafft, Teil von deren Parteilandschaft zu werden. Selbst der jetzige Präsident Viktor Juščenko hielt es für geboten, die Untergrundarmee UPA in die von ihm geförderte Geschichtskonstruktion zu integrieren.

Ein Vorzug von Franziska Bruders Buch ist, dass sie deutsche, ukrainische und polnische Archive nutzte. Daneben zog sie die von OUN-Repräsentanten verfassten Schriften heran, aber auch (was manchmal problematisch ist) die Aussagen ihrer Gegner. Das waren in der Zwischenkriegszeit vor allem der polnische Staat und seine Dienste. Problematisch, weil es sich dabei eben auch um parteiliche Quellen handelt, die nicht eben zimperlich im Umgang mit der Realität waren, so wie alle Seiten schnell dabei waren, sich die \"Fakten\" dem eigenen Gusto entsprechend zurechtzuschreiben. Ein wenig mehr Quellenkritik hätte also der Darstellung gut getan. Dennoch kam etwas sehr Wichtiges zustande.

Die Verfasserin entwirft drei Themenkomplexe: Sie erschloss die Ideologie des spezifisch ukrainischen Nationalismus, der nicht müde wurde (und wird), seine Voraussetzungslosigkeit, seine Selbstständigkeit und Einzigartigkeit zu betonen und sich gerade damit in die allgemein europäische Strömung einreihte. Sie fragt nach den \"Akteuren\", also den Trägern der Bewegung und schließlich nach der \"Aktionsstrategie\", umrahmt von den \"situativen Faktoren\", die das Handeln der Gruppe bestimmten.

Was zunächst sehr politologisch klingt, erweist sich bei der Lektüre als eine lesbare, handfeste Übersicht über die Ziele, Personen und Handlungen einer Bewegung, deren Stärke eher im militanten und rücksichtslosen Tun lag als im tiefer gehenden Denken.

Dies wird im ersten Abschnitt (1929-1939) besonders deutlich, dem es sicher gutgetan hätte, wenn die Verfasserin auf die Vorgeschichte der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung im Umfeld des Ersten Weltkriegs eingegangen wäre. So wie eine wichtige Grundlage des italienischen Faschismus das Ressentiment gegen den \"liberalen Westen\" gewesen ist, der angeblich Italien um seinen Lohn aus dem Kriegsbeitrag gebracht hatte, so waren auch die ukrainischen Nationalisten keine Kreation aus dem Nichts: Sie schöpften aus dem Frust über die totale Missachtung, die den sich als Nation definierenden Ukrainern seitens der Mächtigen entgegengebracht wurde. Über die demobilisierten Militärs aller möglicher Armeen (die Ukrainische Militärorganisation UVO ist eine der Vorläuferinnen der OUN gewesen), chancenlose Gymnasiasten im nationalistischen Polen und eine aufstrebende Halbintelligenzija, die in einer autoritären Lösung ihr Heil suchte, mauserte sich die OUN zu einer Terroristenbande, die es kaum schaffte, den von ihr geplanten Staat über dessen vage nationale Qualität hinaus zu beschreiben. Entgegen dem großspurigen Anspruch hatte sie außer in der Emigration ihre Basis nur in dem westukrainischen Galizien, wo ihre (selbst)mörderischen Terrorakte ebenso wie die polnischen Gewaltmaßnahmen die Atmosphäre vergifteten. Die daraus resultierende Anbindung an Deutschland war dabei weniger ideologisch als politisch-pragmatisch begründet.

Als die Bewegung 1940 aufgrund von Differenzen über ihre Taktik zerfiel, tangierte dies nicht den (eher ärmlichen) ideologischen Fundus. Die Partizipation an der antipolnischen Politik und der militärischen Eroberung der Deutschen sowie das unbegründete Vertrauen, die Deutschen würden 1941 die Staatsproklamation der Bandera-Fraktion (OUN-B) in Lemberg und das ganz ähnliche Vorgehen der Mel\'nykivcy in Kiew (auf welches die Verfasserin leider nicht eingeht) tolerieren, veranschaulichen, wie mangelhaft das politische Urteilsvermögen der nationalistischen Ukrainer war.

Die zeitweise Trennung von den Deutschen und die anfänglich auch gegen die Deutschen gerichteten Partisanenaktionen der von der OUN-B dominierten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) leiten den dritten Abschnitt ein, der die am stärksten divergierenden Elemente einbezieht. Von der Beteiligung an der deutschen Judenverfolgung bis zu eigenen analogen Aktionen und deren Leugnung, von der Kollaboration mit der Wehrmacht bis zu \'ethnischen Säuberungen\' und dem verbalen Anschluss an das Denken der Westmächte reicht das Spektrum von Handeln und Ideologie - und in diesem besten Teil der Arbeit gelingt es der Verfasserin überzeugend, die zeitgleichen gegensätzlichen Äußerungen als primär taktisch bedingt zu entlarven.

Der enorme Stoffreichtum des dargestellten Geschehens hätte für eine ganze Buchreihe ausgereicht. Franziska Bruder führt eine Reihe neuer und wichtiger Texte zum ukrainisch-jüdischen Verhältnis an. Schon damit hat sie die Forschung vorangebracht. Die Masse komplizierter Zusammenhänge bedingt, dass die Verfasserin einiges verkürzt darstellt (so etwa die Aktionen der allerdings von den Bandera-Leuten gern totgeschwiegenen Mel\'nyk-Fraktion ebenso wie die Problematik der Zwangsarbeiter und der legalen Nationalisten im Reich und im Protektorat, die sie ganz ausgeklammert hat). Auch hätte sie deutlicher machen können, wie das Ineinandergreifen von spezifischen biografischen Faktoren der OUN-Protagonisten und scheinbarer Alternativlosigkeit zur nationalistischen Perspektive ein Szenario von Verbissenheit und Unbelehrbarkeit schuf. Die generelle Verbreitung dieser ausschließlich auf die ethnische Nation fixierten Einstellung war in der politischen Welt der Mitte des 20. Jahrhunderts über die ukrainische Kommunität hinaus verbreitet. Die im Titel genannte Alternative galt schließlich mutatis mutandis für viele nationale oder politische Gruppen jener Zeit (selbst für diejenigen, die sich schon auf einen Staat beziehen konnten), und die nationalistischen Ukrainer kennzeichnete dabei allein eine prekäre faktische Ausgangslage und eine noch stärker ausgeprägte Dürre des politischen Denkens.

Franziska Bruder verfolgt die erfolglose Suche der OUN nach einem politischen Platz bis 1948. Sie hätte noch ein paar Jahre weiter gehen können und dann auch die identitätsbildende Funktion der OUN nach dem Zerfall der UdSSR ansprechen können. Vielleicht ist es aber auch gut, dass sie hier einen klaren Schnitt gezogen hat. Das Verdienst des Buches ist dabei, die politische Welt jenseits der zentralen Oberflächenthemen des Zweiten Weltkriegs zu beschreiben und dabei auch die Relativität der uns gemeinhin so vertrauten Zeitgrenzen zu belegen.

Frank Golczewski