KOMMENTAR ZU

Jeremy McInerney: Rezension von: Angela Kühr: Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 4 [15.04.2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/04/13593.html

Von Michael Zahrnt

Herrn Jeremy McInerneys Rezension der Arbeit von Angela Kühr, Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen, bedarf einiger Klarstellungen. Zu diesen fühle ich mich umso mehr berechtigt, als ich vor nunmehr zehn Jahren Frau Kühr auf eine Exkursion nach Mittelgriechenland mitgenommen, dabei unbewusst und ungewollt ihr Interesse für Boiotien geweckt und später mit Interesse und gelegentlichem Zuspruch das Entstehen ihrer Dissertation verfolgt habe. Der Vorwurf, wichtiges Material übersehen zu haben, trifft mich also gleichermaßen, und für die sonstigen behaupteten Defizite wäre ich, wenn sie denn nachgewiesen werden können, mitverantwortlich.

Dass eine Arbeit wie die vorliegende nicht darauf verzichten kann, den theoretischen Hintergrund zu skizzieren, auf dem die Untersuchung aufbaut, und die Schwierigkeiten zu erläutern, die sich ergeben, wenn man Mythen zum Gegenstand historischer Forschung macht, dürfte unbestritten sein. Dass bei derartigen Erörterungen auch durchaus Bekanntes zur Sprache kommen kann, versteht sich ebenfalls von selbst; wo kämen wir hin, wenn sich jeder Verfasser seine eigenen theoretischen Grundlagen schafft? Dass sich Frau Kühr in starkem Maße auf Assmann beruft, ist ihr gutes Recht, nur ist sie im Gegensatz zum Rezensenten in der Lage, auch dessen Namen richtig zu schreiben. Und der Vorwurf, dass "the reader is still left waiting for the application of these approaches to the Boiotian material" zeigt, dass dem Rezensenten Wesen und Bedeutung theoretischer Vorbemerkungen offenbar unbekannt sind.

Tatsächlich arbeitet Frau Kühr vom nächsten Kapitel an erfreulich quellennah. Das kann auch Herr McInerney nicht bestreiten, und so sucht er seine Zuflucht bei einem vermeintlichen Defizit, nämlich der Vernachlässigung eines angeblich wichtigen Zeugnisses. Es ist immer gut, wenn man Quellen nennen kann, man muss sie aber auch richtig zitieren (FHG II 254-264 ist eine entschieden zu ungenaue Angabe) und vor allen Dingen gründlich gelesen haben; dann ergibt sich nämlich, dass Herakleides Kritikos für das in Kapitel III behandelte Thema gar nichts hergibt: Bei ihm geht es einzig darum, dass Oropier und Plataier zwar Boioter waren, sich aber eher als Athener fühlten. Das aber hat mit "Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen" (so der vom Rezensenten nicht hinreichend beachtete Untertitel) rein gar nichts zu tun.

Im vierten Kapitel kann der Rezensent sachlich nichts beanstanden und muß sogar (zähneknirschend?) Zustimmung zur Deutung der literarischen Zeugnisse bekunden. Tatsächlich geht es in diesem Kapitel primär um diese, und die letzte zusammenfassende Aufarbeitung der thebanischen Topographie von 1985 hat daher weniger beweisenden als erläuternden Charakter. Wenn demgegenüber gefordert wird, dass neuere Grabungsergebnisse, die bekanntlich nur mit gewisser Verzögerung und nicht immer vollständig veröffentlicht werden, hätten zur Kenntnis genommen werden sollen, so wird die Zielsetzung auch des vierten (und mit Abstand längsten) Kapitels verkannt. Geradezu abstrus ist schließlich die Forderung, die Verfasserin hätte sich diesbezüglich in der Zeitung Kathimerini vom 11.11.2004 über die Grabungsergebnisse des Jahres 2004 informieren sollen. Die Kathimerini mag eine respektable Tageszeitung sein, aber welcher - zumal nichtarchäologische - Doktorand würde sich im Feuilletonteil der FAZ über neuere Grabungsergebnisse informieren?

Nach diesen Richtigstellungen dürfte es kaum noch nötig sein, sich mit dem gegenüber dem fünften Kapitel erhobenen Vorwurf, dass "the archaeology is less well handled", auseinanderzusetzen, beruht er doch auf demselben durchgehenden und grundsätzlichen Mißverständnis bzw. der fehlenden Erkenntnis, dass es sich nicht um eine archäologische oder gar geographische, sondern um eine philologisch-historische Untersuchung handelt, und wer mit dieser Erwartung an das Buch herangeht, wird bei der Lektüre reich belohnt werden.