Rezension über:

Andreas J. Kotulla: "Nach Lourdes!". Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich (1871-1914), München: Martin Meidenbauer 2006, 598 S., ISBN 978-3-89975-052-2, EUR 59,90
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Rezension von:
Gisela Fleckenstein
Brühl
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Gisela Fleckenstein: Rezension von: Andreas J. Kotulla: "Nach Lourdes!". Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich (1871-1914), München: Martin Meidenbauer 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/12/9816.html


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Andreas J. Kotulla: "Nach Lourdes!"

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Das Buch "Nach Lourdes!" ist kein Aufruf zu einer populären Wallfahrt, sondern eine 2005 von der Universität Trier im Fach Kirchengeschichte angenommene Promotionsarbeit. Gegenstand ist das katholische Pilgerziel Lourdes, wo das Mädchen Bernadette Soubirous 1858 eine Reihe von Marienerscheinungen hatte. Innerhalb der katholischen Welt eigentlich nichts Besonderes, doch Lourdes gehört bis heute zu den weltweit meistbesuchten Marienwallfahrtsorten. Kotulla hat sich einer Forschungslücke im langen 19. Jahrhundert angenommen und die Marienverehrung in ihrer besonderen Ausprägung des Lourdes-Kultes und der Lourdeswallfahrt im Kontext des Katholizismus im protestantisch dominierten Deutschen Kaiserreich untersucht: "Ab wann und in welcher Art und Weise [wurde] Lourdes auch in Deutschland zum Gegenstand katholischer Kommunikation und im Folgenden zum selbstverständlichen Bezugspunkt der Frömmigkeit sowie zum Wallfahrtsziel"? (4)

Kotulla geht nicht nur von der gegenständlichen Lourdesrezeption aus, sondern er wirft einen Blick in die zeitgenössische katholische Literaturlandschaft. Begrenzt wird das Sujet auf die Zeit zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg, wobei sich Kotulla an der Formierungsphase des katholischen Milieus, die gemeinhin zwischen 1840 bis 1914 reicht, orientiert. Der Beginn der Untersuchung mit 1870/71 ist daher als Zäsur nicht einsichtig, da das Phänomen Lourdes ab 1858 relevant war und die Gründung des Kaiserreiches kein Einschnitt ist. Die eigentliche Zäsur ist das "goldene Zeitalter der Nationalwallfahrten", welches nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 bis zum Ersten Weltkrieg einzuordnen ist (Ordre Moral). Dies hätte Kotulla auch im Titel der Arbeit deutlich machen müssen. Schwerpunkt ist also die Zeit, die von Roger Aubert als "Sieg des Ultramontanismus" bezeichnet wurde.

Als methodischen Zugriff wählt Kotulla den Untersuchungsansatz des Kulturtransfers, um den Popularisierungsprozess des Lourdes-Kultes und des Wallfahrtsgedankens zu erfassen (18f.). Weil der Transfer am Medium Schrifttum untersucht wird, soll auch ein kommunikationsgeschichtlicher Ansatz gewählt werden. Nach umfänglicher und fußnotenschwangerer Einleitung bekennt er sich dann doch zu einer "frömmigkeitsgeschichtlichen Studie" (22). Als Hauptquellen benutzt der Verfasser das Archiv des Wallfahrtsortes mit den dort publizierten Periodika, Unterlagen des Deutschen Lourdes-Verein, die in Deutschland herausgegebenen Kult-Periodika sowie die zwischen 1871 bis 1914 erschienenen Lourdes-Publikationen. Um die Rezeption zu verdeutlichen, musste für den gleichen Zeitraum auch die entsprechende französische Literatur gesichtet werden. Literatur umfasst hier global alles in gedruckter Form über Lourdes. Um die frühe Kenntnis über die Ereignisse in Lourdes in Deutschland zu eruieren, wurde die Literatur um 1858 ebenfalls gesichtet. Hierbei lag der Schwerpunkt auf der katholischen Presse.

Zunächst gibt Kotulla einen Überblick über die im ultramontanen Katholizismus erstarkte Marienfrömmigkeit, die fast wieder sinnlich geprägte barocke Ausdrucksweisen fand. Neue Marienerscheinungen häuften sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einige wurden kirchlich anerkannt und als Pilgerziele kultiviert. Lourdes wurde 1862 bischöflich anerkannt und durch eine Missionskongregation von Priestern befördert, denen der Wallfahrtsbetrieb anvertraut wurde. Seitens der Päpste wurde der Ort durch Ablässe gutgeheißen. Ab 1866 war er an das Eisenbahn- und Telegrafennetz angeschlossen und daher gut zu erreichen. Die Publikationen der Missionare sorgten für das Übrige. Lourdes wurde von den Anhängern der französischen Monarchie politisch im Sinne der Restauration instrumentalisiert. In Rom sollte der Papst wieder weltlicher Herrscher und in Frankreich der Königsthron wieder besetzt werden. Lourdes war das Ziel französischer Nationalwallfahrten, die in ganz Frankreich besonders durch den Orden der Assumptionisten gefördert wurden. Sie inszenierten auch die ersten Massenwallfahrten von Kranken.

Ausführlich schildert Kotulla die Organisation der Wallfahrt, die Anerkennung durch Rom, die innerfranzösische Kritik am Wallfahrtsort, die medizinische Untersuchung der Wunderheilungen und deren Einordnung in die medizinischen Erkenntnisse der Zeit sowie den kritischen Roman Emile Zolas. Dabei geht er immer mindestens bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Das "und" im Titel der Arbeit ist wörtlich zu nehmen, schildert Kotulla doch - wie in einem eigenen Buch, wenn auch ohne spezifische Fragestellung und Wertung - die Geschichte des Wallfahrtsortes und der damit verbundenen Phänomene bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges (bis 192). Erst der zweite Teil beschäftigt sich mit der Lourdesrezeption im Kaiserreich, der dritte Teil dann mit der deutschen Literatur. So durchwandert der Leser fast alle bisher geschilderten Geschichten um Lourdes nochmals, um diese jetzt aus dem Blickwinkel des Kaiserreichs bzw. der Literatur zu sehen. Eleganter, interessanter, aber arbeitsintensiver wäre gewesen, die drei Schilderungen der Verbreitung der Lourdes-Wallfahrt parallel darzustellen. Dadurch wären viele inhaltliche Doppelungen vermieden worden und die sehr überzeugenden Ergebnisse wären klarer konturiert. Kotulla hätte seine Darstellung besser nach verschiedenen Aspekten der Wallfahrt, ihrer Rezeption und ihres Transfers unterteilt.

Die Arbeit ist kleinschrittig gegliedert, was zum Teil den Lesefluss hemmt und zu Doppelungen in der Darstellung führt. Kotulla gibt an, dass die Ereignisse von Lourdes gut bekannt seien, doch er scheut keine detailverliebte Schilderung der Anfänge der Wallfahrt mit der Seherin Bernadette Soubirous (39-58). Er erwähnt viele Personen, Bischöfe, Ordensleute, Priester, aber gibt nur sporadisch deren volle Namen oder Lebensdaten an. Da das Buch auf jegliche Indizes verzichtet hat, ist es oft schwierig, Zusammenhänge herzustellen. Die wenigen Abbildungen sind von schauerlicher Druckqualität und damit überflüssig.

Lourdes war und ist der Ort der Krankenheilungen und der Wunder. Deutsche Pilger sind in Lourdes offiziell seit 1872 bekannt. Dies sieht Kotulla als Reaktion auf den Kulturkampf, da Pilgergruppen von Priestern geleitet wurden, die aufgrund der Anwendung der Kulturkampfgesetze Zeit für mehrwöchige Reisen hatten (229). Politisch bedeutete die Wallfahrt eine Reise ins Feindesland und war somit eine Demonstration gegen den preußischen Staat. Allerdings gab es zwischen 1875 und 1887 keine auffällig größeren deutschen Pilgergruppen mehr. Die Blüte der organisierten Gruppenwallfahrten setzte im Jubiläumsjahr 1908 ein. Für die Organisation der Wallfahrten bzw. "religiöser Pauschalreisen" (299) wurde der Deutsche Lourdes-Verein (DLV) (e.V. ab 1908) führend. Er organisierte professionelle Wallfahrten und verfügte über einen eigenen Hospitalzug für die Krankenwallfahrten. Der Wallfahrtsbetrieb wurde mit dem Kriegsbeginn 1914 unmöglich, weshalb der DLV auf innerdeutsche Wallfahrtsziele ausweichen musste. Dies geschah nochmals in der Zeit des Nationalsozialismus. Der DLV konnte erst in der Bundesrepublik wieder an seine Ursprünge anknüpfen (344).

Kotulla arbeitet in seinem Buch nebenbei auch den ökonomischen Wandel vom verschlafenen Pyrenäendorf zum Pilgertouristenzentrum heraus, wobei der Eisenbahnanschluss eine zentrale Rolle spielte, der auch den Devotionalienvertrieb förderte. Er zeigt drei Ebenen der Lourdes-Kult-Rezeption auf: Anteilnahme durch Devotionalien, wie Lourdeswasser und Errichtung von Lourdes-Grotten, die eigentliche Pilgerfahrt zum Wallfahrtsort und die Wahrnehmung der Literatur über Lourdes. Letztlich ist Lourdes eine Erfolgsgeschichte des französischen Katholizismus, dessen Welle auch auf Deutschland überschwappte. Der Kult wurde maßgeblich durch die Printmedien popularisiert und damit gelang ein Transfer über die nationalen Grenzen hinweg. Katholiken dachten hier katholisch und nicht national. Lourdes ist bis zur Gegenwart populär und das nächste Jubiläumsjahr steht vor der Tür: 2008 - Nach Lourdes?

Gisela Fleckenstein