Rezension über:

Nicole Priesching: Maria von Mörl (1812 - 1868). Leben und Bedeutung einer 'stigmatisierten Jungfrau' aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen: A. Weger 2004, 485 S., ISBN 978-88-85831-97-1, EUR 48,00
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Rezension von:
Gisela Fleckenstein
Hauptstaatsarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Gisela Fleckenstein: Rezension von: Nicole Priesching: Maria von Mörl (1812 - 1868). Leben und Bedeutung einer 'stigmatisierten Jungfrau' aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen: A. Weger 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/6157.html


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Nicole Priesching: Maria von Mörl (1812 - 1868)

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Der Kirchenhistoriker Otto Weiß regte die Beschäftigung mit der aus Kaltern stammenden Maria von Mörl zu Mühlen und Sichelburg an. Er beschäftigte sich wiederholt mit visionären und stigmatisierten Frauen. Durch einen wichtigen Quellenfund im Nachlass der ersten Mörl-Biografin Maria von Buol konnte Nicole Priesching in ihrer an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen entstandenen Dissertation dem Phänomen der stigmatisierten Jungfrau unter besonderen Fragestellungen nachgehen. Sie wertete Briefe der Stigmatisierten und Besucherberichte aus.

Bei der adeligen Jungfrau Maria von Mörl traten seit 1832/34 an Händen und Füßen die Wundmale Christi auf. Die Stigmatisierte wurde damit in Kaltern (Südtriol) über 35 Jahre hinweg zum Anziehungspunkt für Besucher, Pilger und Schaulustige. Im Sommer 1833 sollen circa 40.000 Menschen an diesem 'lebendigen Wallfahrtsort' gewesen sein. Unter den Besuchern waren unter anderem Bischöfe, Adelige und Politiker. Dazu gehörten auch die Anhänger des Görres-Kreises. Es war Josef von Giovanelli, der Görres zum Besuch Maria von Mörls animierte, was diesen zur Aufnahme Mörls in den zweiten Band seiner "Christlichen Mystik" (1837) inspirierte.

Ziel der Dissertation ist es, die Bedeutung Maria von Mörls "für die Frömmigkeit im Katholizismus des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Eigenperspektive und Fremdwahrnehmung" (17) herauszuarbeiten. Die Autorin nimmt eine analytische Trennung der beiden Bereiche vor. Sie behandelt zunächst die Biografie der Maria von Mörl im Kontext der Lebenswelt im "heiligen Land Tirol" - nicht ohne einen Blick auf die überregionale Geschlechtergeschichte zu werfen. Dafür stehen 138 Ego-Dokumente, das heißt Briefe Mörls an die Seherin Luise Beck (1822-1879) zur Verfügung. Luise Beck aus Gars / Altötting, die auch stigmatisiert war und über ihre Beichtväter kirchenpolitisch wirkte, hatte ab 1858 Mörl wiederholt besucht und dann einen Briefwechsel initiiert.

Diese Analyse ist gleichzeitig ein Schlüssel zum Verständnis der besonderen Tiroler Frömmigkeitskultur im 19. Jahrhundert. In Südtirol gab es neben Maria von Mörl noch weitere Stigmatisierte (Ursula Mohr, Eppan; Krescentia Niglutsch, Tscherms; Domenica Lazzeri, Capriana und Theresia Steiner, Taisten), doch nach 1848 blieb allein Mörl übrig, was ihre Bedeutung unterstreicht. Nach dem Tode Mörls brachen Konflikte der Menschen aus ihrem engeren Umfeld auf, wobei sich Luise Beck als beste Freundin und Vertraute Mörls positionieren wollte. Materiell ging es um das Erbe und immateriell um das Deutungsmonopol über das richtige Verständnis der Stigmatisierten. Hier wird die Arbeit stellenweise sehr kleinschrittig. Letztlich blockierten sich die beiden rivalisierenden Parteien in ihrem Vorhaben etwas über Mörl zu veröffentlichen gegenseitig, sodass die zu ihren Lebzeiten als Heilige verehrte Jungfrau fast in Vergessenheit geriet.

Im zweiten Teil untersucht Priesching das Phänomen der Stigmatisierung im Kontext ultramontaner Frömmigkeit. Grundlage für ihre Analyse ist der sehr weit gefasste Ultramontanismusbegriff von Otto Weiß. Er versteht den "Begriff als Bezeichnung einer innerkatholischen Bewegung, die einen konservativen, an Rom orientierten Katholizismus vertrat, welcher Ziele wie eine katholische Rekonfessionalisierung verbunden mit innerer religiöser Erneuerung verfolgte" (19). Zu den Freundes- und Besucherkreisen um Maria von Mörl gehörten Kleriker und Laien. Die Verfasserin erstellt eine Netzwerkanalyse der deutschsprachigen Besucher und daraus ergibt sich - neben dem ultramontanen Beziehungsgeflecht - eine vielfältige Verbindung ultramontaner Katholiken nach Tirol. Besonders berücksichtigt werden der Görreskreis in München, der Schlosserkreis in Stift Neuburg bei Heidelberg und die Schwestern vom Armen Kinde Jesu in Aachen mit ihrer Gründerin Klara Fey. Priesching untersucht die Motivation für einen Besuch bei Mörl und analysiert anhand von 24 Besucherberichten zwischen 1833 und 1867 deren Eindrücke und Deutungen. Maria von Mörl war sich ihrer großen Bedeutung für andere wahrscheinlich gar nicht bewusst. Sie sah sich selbst als einfache, fromme Frau, die in ihrer Frömmigkeit mit ihren Leiden umgehen konnte. Die Stigmata finden in ihren Briefen keine Erwähnung, und das unterschied sich damit deutlich von Luise Beck. Dennoch erfüllte sie für die Besucher ihre Rolle als Anschauungsobjekt zur Erbauung.

Das Buch ist eine frömmigkeitsgeschichtliche Studie, die sich methodisch selbst - mit einem erweiterten biografischen Ansatz - den Kulturwissenschaften zuordnet. Letztlich hat Priesching eine kritische Untersuchung über das Leben der Maria von Mörl und ihren Einfluss auf fromme Zeitgenossen vorgelegt und dabei die Besonderheiten des religiösen Binnenklimas im heiligen Land Tirol auf subtile Art und Weise beleuchtet. Sie ordnet die ekstatische und stigmatisierte Jungfrau in den Kontext von Kongregationen, Bruderschaften und Herz-Jesu-Kult ein und erklärt ihre Wirkung als Stigmatisierte ohne Visionen (Seherin). Die Rolle der Amtskirche bestand in diesem Fall darin, nicht einzugreifen. Der Kult wurde von kirchlicher Seite aus nicht gesteuert, sondern vom Freundeskreis um Josef von Giovannelli.

Erstmals wird eine über die Ereignisgeschichte hinausgehende Untersuchung über das Land Tirol geboten, in dem die religiöse Welt noch in Ordnung war. Die schon beim Begräbnis der Mörl 1868 angestrebte Seligsprechung (Beisetzung in einem Zinnsarg) wird mit diesem kritischen Buch wohl nicht weiter befördert werden. Das vorliegende Buch hat ein für wissenschaftliche Publikationen schickes, aber für Historiker ungewohntes Layout. Gewöhnungsbedürftig und leseunfreundlich sind die dreispaltigen Fußnoten. Die Abbildungen zeigen überwiegend Miniaturporträts der im Text erwähnten Akteure. Die Publikation beschäftigt sich mit einem Teilaspekt ultramontaner Frömmigkeit und wer bereit ist, sich in die - wegen der oft minuziösen Einzelheiten - nicht leicht lesbare Biografie Mörls einzuarbeiten, wird mit tiefen Erkenntnissen über das heilige Land Tirol belohnt. Vielfach spannend sind die Auszüge aus den Besucherberichten.

Gisela Fleckenstein