Rezension über:

Brigitte Kasten (Hg.): Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000). Festschrift für Dieter Hägermann zum 65. Geburtstag (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 184), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, XX + 408 S., ISBN 978-3-515-08788-9, EUR 79,00
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Rezension von:
Elke Goez
Universität Passau
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Elke Goez: Rezension von: Brigitte Kasten (Hg.): Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000). Festschrift für Dieter Hägermann zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/11238.html


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Brigitte Kasten (Hg.): Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000)

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In 18 Beiträgen widmet sich die Festschrift vier großen Themen: "der verortete Mensch", "der tätige Mensch im säkularen Lebensbereich", "der tätige Mensch im religiösen Lebensbereich", "der Mensch und sein Werkzeug" sowie der abschließenden Frage "war man vor tausend Jahren im Volk verortet". Im ersten Block untersucht Wolfgang Haubrichs die Motive der Ortsnamengebung bei Heim-Orten, wobei er besonders den deskriptiven Charakter dieser Namen und dessen Ergänzung durch bewertende Adjektive sowie Beschreibungen der Ortslage (Topographie, Wald, Rodung etc.) herausstellt. Heim-Orte, deren Namen auf Institutionen sowie auf Nutzung und Funktion der Orte verweisen, lassen Rückschlüsse auf politische und strukturelle Kenntnis der Bewohner zu. Jean-Pierre Devroey relativiert die These von der scheinbar unbegrenzten Herrschaft des Herrn eines Großhofes über das vorhandene Humankapital und seine Steuerungsmöglichkeiten der demographischen Entwicklung. Vielmehr konnte die erkennbare Ordnung in der Krise der späten Karolingerzeit den chaotischen Zuständen nicht mehr stand halten. Der latente Widerstand der Landbevölkerung wurde immer offensichtlicher und gipfelte in dem Versuch der Bauern, durch Flucht bessere Lebensmöglichkeiten zu gewinnen. Brigitte Englisch deutet mehrere berühmte frühe Weltkarten als "visualisierte Reflexion irdischen Lebensraumes", die mit der klaren Intention geschaffen wurden, konkrete Informationen zu vermitteln. Dabei erhalten das profan-erfahrbare Wissen und der Lebensbereich der Illiteraten einen immer größeren Raum, wodurch selbst konventionelle mittelalterliche Mappae mundi, wie beispielsweise diejenige des Heinrich von Mainz, weit über ihre antiken Vorbilder hinauswachsen.

Im zweiten Themenbereich hinterfragt Werner Rösener die Lage der servi und betont, dass im 10. Jahrhundert die innerhalb einer Grundherrschaft lebenden unfreien Hufenbauern mit eigener Hofstelle im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten keinesfalls als Sklaven anzusehen sind, da sie nicht nur Pflichten, sondern auch eigene Rechte besaßen. Auch Michel Parisse widmet sich der Frage der Sklaverei. Seine Untersuchung der Traditionsurkunden im Liber memorialis von Remiremont, gut 700 Stück bis zum Jahr 1000, ergibt, dass die servi in Remiremont zwar zu jährlichen Abgaben verpflichtet waren, sich damit aber auch ein Stück Freiheit erkaufen konnten. Ob die zunehmende Verbesserung der Rechtssituation der servi in Remiremont aber generalisierbar ist, muss angesichts des Mangels an Vergleichsquellen offen bleiben. Yitzak Hen analysiert den unter dem Namen De observacione ciborum bekannten Brief des Byzantiners Anthimus an den Merowinger Theuderich I. und kommt zu dem nicht eben neuen Schluss, dass Qualität und Quantität, Raffinesse sowie Beschaffenheit von Speisen und Getränken bei den Merowingern ein Gradmesser des sozialen Ranges und ein Spiegel der Gesellschaft waren. Hans-Werner Goetz korrigiert mehrere Forschungsthesen zur angeblichen Unterscheidbarkeit der königlichen oder geistlichen von der privaten Grundherrschaft. Dass die Arrondierungspolitik königlicher und geistlicher Grundherren vorbildgebend für die privaten Grundherren gewesen sei, ist ebenso wenig zu beweisen wie eine Vorherrschaft der Gutswirtschaft. Gänzlich falsch ist die These, die private Grundherrschaft sei stärker durch Streubesitz gekennzeichnet, denn niemand besaß im Mittelalter mehr Streubesitz als der König und die Kirche. Brigitte Kasten korrigiert ebenfalls eine alte Forschungsmeinung, wonach prekarische Landleihen vor allem der Melioration und Urbarmachung des Bodens gedient hätten und damit Motoren agrarischer Innovationen gewesen wären. Tatsächlich findet sich eine Verpflichtung zur Instandhaltung und Melioration in einschlägigen Urkunden häufig, doch diente nur die diesseits der Alpen sehr seltene Form der precaria data der Neulandkultivierung. Die verbreiteten Formen der praecaria oblata sowie der precaria remuneratoria zielten dagegen auf Wertschöpfung des verlehnten Grundbesitzes und gehören somit zu den Immobiliengeschäften. Daher lässt sich kein Zusammenhang zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten und prekarischer Landleihe konstruieren. Den Problemen der Nachweisbarkeit, ob ein Tradent bäuerlicher Herkunft war, widmet sich Gesine Jordan und kommt zu dem Schluss, dass es allein auf Grund der Urkundentexte nur in den seltensten Fällen möglich ist, die Person eines Tradenten näher zu erfassen; prosopographische Vorkenntnisse sind nahezu unerlässlich. Jan Ulrich Büttner und Sören Kaschke hinterfragen die Angst der Zeitgenossen, klösterlicher Fernbesitz könne bei den karolingischen Reichsteilungen entfremdet werden. Sie kommen zu dem überraschenden Schluss, dass es sich bei diesem Schreckgespenst weit stärker um eine theoretische Gefahr, denn um eine reale Bedrohung handelte. Selbstverständlich gab es Entfremdungen von Fernbesitz, doch ist nicht zu beweisen, ob die Verluste innerhalb des fremden Reichsteils größer waren als diejenigen im eigenen, heimischen Reichsteil. Das überraschende Ergebnis wäre dringend mit den Befunden für andere Konvente zu überprüfen.

Den tätigen Menschen im religiösen Bereich wenden sich die Beiträge von Cordula Nolte und Heinrich Schmidt zu. Cordula Nolte hebt hervor, dass Gregor von Tours die Eigeninitiative der Landbevölkerung vor allem im Reliquienwesen und der benedictio klar gesehen hat, diese aber nicht unterstützte, sondern konsequent die Position des Klerus stärkte. Dabei bettete er allerdings Reste heidnischer Praktiken in modifizierter Form in sein Missionswerk ein, was die Akzeptanz des Christentums in der Landbevölkerung erhöhte. Heinrich Schmidt untersucht die mannigfachen Probleme der Christianisierung aus bäuerlicher Sicht. Besondere Schwierigkeiten bereitete die Einführung neuer Feiertage, die den gewohnten Tagesablauf veränderten. Eine tiefergehenden Christianisierung scheiterte an der mangelnden kirchlichen Infrastruktur in Sachsen und Friesland sowie dem lückenhaften Predigtangebot, das oft nur oberflächlich war und kaum tieferes Verständnis bei den zu Bekehrenden wecken konnte. Erst im 11. Jahrhundert wandte sich Friesland intensiver dem Christentum zu, was einem Bedürfnis der Landbevölkerung entsprach. Angefacht wurde diese neue Hinwendung zum Glauben wohl durch die Landfriedensbewegung, scheint es doch eine Übereinstimmung von Akzeptanz der Kirche und zunehmender Verfestigung der autonomen friesischen Landfriedensverbände gegeben zu haben.

Im letzten Themengebiet verbindet Karl-Heinz Ludwig die bislang isolierten Forschungsgebiete der Numismatik mit der Montanarchäologie und Archäometrie sowie den Schriftquellen. Ausgehend von Melle im Poitou kann er zeigen, wie ländliche Menschen in der Montanwirtschaft die Grenzen ihrer Grundherrschaften sprengten, in dem sie mit anderen Montangegenden kooperierten und sich als Berg- und Hüttenleute zu hochspezialisierten Produzentengruppen zusammenschlossen und gemeinsam mit Steinmetzen, Münzmeistern oder Graveuren als Wanderarbeiter intensiv den Kulturtransfer förderten. Seine überzeugenden Untersuchungen zu Wander- und Kommunikationswegen belegen, dass der deutsche Raum das Montanwissen des Franken- und Westfrankenreiches inhaltlich übernahm. Kritisch setzt sich Konrad Elmshäuser mit dem wissenschaftlichen Gemeinplatz auseinander, man habe im Frühmittelalter möglichst alles zu Schiff transportiert. Er kommt vielmehr zu dem Schluss, dass dies nur für die Königslandschaft am Mittelrhein belegbar ist. In anderen Regionen bevorzugte man den Landtransport, obwohl schiffbare Flüsse vorhanden gewesen wären, da es eklatant an Transportschiffen und spezialisiertem Personal mangelte. Konnte ein Grundherr jedoch Schiffsdienste von seinen Hörigen einfordern, griff er auf den Transport zu Schiff zurück. Udo Recker und Michael Schefzik stellen den von der Kommission für archäologische Landesforschung in Hessen (KAL) im Jahr 2000 ins Leben gerufenen Forschungsschwerpunkt Wirtschaftsarchäologie vor, der trotz seiner Gegenwartsrelevanz finanziell nicht weitergefördert wird. Dies ist um so bedauerlicher, da die Ergebnisse der Archäologie für das Verständnis der politischen Geschichte fruchtbar sind. So kann bewiesen werden, dass die Frankisierung in Nordhessen spätestens im 7. Jahrhundert begann und im 8. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Das bedeutet aber, dass Bonifatius kein Neuland betrat, sondern auf bereits christianisierte fränkische Befestigungsanlagen aufbauen konnte. Dies wiederum macht eine kritische Neulektüre der Bonifatius-Vita nötig. Ulrich Weidinger widmet sich dem Versuch Lübecks, im Jahr 1259 die Dominanz der Interessen der Schiffseigner zugunsten der Kaufmannswünsche zu brechen. Lübeck scheiterte mit seiner Initiative. Erst als die Kaufleute auch in den anderen Seestädten die städtische Wirtschaft beherrschten, gelang es ihnen, den Vorrang der Interesse der Reeder zugunsten der Bedürfnisse der Befrachter nachhaltig zu verändern. Im letzten Beitrag fragt Matthias Springer nach der gefühlten Zugehörigkeit der Menschen um das Jahr 1000. War die Bevölkerung in der Rechtszugehörigkeit, dem Stand innerhalb der Gesellschaft sowie in Memorialkreisen klar verortet und in geistliche und weltliche Lebensbereiche aufgeteilt, so lässt sich kein Indiz dafür finden, dass sie sich als Volk empfanden. Vielmehr fühlten sich die Menschen als "Zubehör der Herrschenden". Der vielfältige, in seinen hochinformativen Beiträgen eine Fülle bäuerlicher Lebensbereiche berührende Band wird durch ein Verzeichnis der Schriften von Dieter Hägermann, einer Liste der Promotionen und Habilitationen durch Dieter Hägermann, ein Curriculum vitae, ein Register der zitierten Quellen und ein Verzeichnis der zitierten Literatur abgeschlossen.

Elke Goez