Rezension über:

Harry Francis Mallgrave: Modern architectural theory. A historical survey, 1673 - 1968, Cambridge: Cambridge University Press 2005, xvii + 503 S., ISBN 978-0-521-79306-3, GBP 70,00
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Rezension von:
Carsten Ruhl
Kunstgeschichtliches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Carsten Ruhl: Rezension von: Harry Francis Mallgrave: Modern architectural theory. A historical survey, 1673 - 1968, Cambridge: Cambridge University Press 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/9383.html


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Harry Francis Mallgrave: Modern architectural theory

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Nach den zuletzt zahlreich erschienenen Anthologien zur Geschichte der Architekturtheorie, mutet der Versuch des amerikanischen Architekturhistorikers Harry Francis Mallgrave, die zitierten Quellen wieder in Beziehung zueinander zu setzen und in größere historische Entwicklungen einzubetten, geradezu erfrischend an. Im Unterschied zu Hanno-Walther Krufts Standardwerk "Geschichte der Architekturtheorie", das erste und zugleich vorläufig letzte Projekt dieser Art, kapriziert sich Mallgrave allein auf die Moderne, die er allerdings sehr weit fasst. Nicht weniger als dreihundert Jahre architekturtheoretischer Reflexion sind Gegenstand der opulenten Darstellung, die ihren Anfang im Frankreich des 17. Jahrhunderts nimmt.

Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Wie bereits in zahlreichen früheren Studien erkannt, waren es Autoren wie Claude Perrault, die im Rahmen der "Querelle des Anciens et des Modernes" die überkommenen Strukturen und Inhalte des klassischen Architekturdiskurses auf empirischer Basis zu widerlegen suchten und somit erst den Impuls zu einer modernen Theoriebildung im Sinne einer kritischen Überprüfung der Konventionen gaben. Der hiermit eingeleitete Paradigmenwechsel wird bereits auf der begrifflichen Ebene deutlich. Insbesondere in seiner "Ordonnance des cinq espèces de colonnes selon la méthode des anciens" erlaubt sich Perrault, das vormals kosmologisch begründete Schönheitsideal durch die Differenzierung zwischen beauté positive und beauté arbitraire zu relativieren und gleichzeitig für eine stärkere Einbindung der subjektiven Wahrnehmung zu plädieren.

Mallgrave legt äußerst detailreich die hiermit verbundenen Auseinandersetzungen zwischen Perrault und François Blondel dar und bettet sie darüber hinaus in den primär literarisch motivierten Konflikt um das Verhältnis zwischen Moderne und Antike ein. Von zentraler Bedeutung sind hierbei die Schriften Charles Perraults, die Mallgrave ausführlich zitiert, um den Wandel vom zyklischen Geschichtsverständnis zum Fortschrittsdenken in den Künsten und Wissenschaften aufzeigen zu können. Indessen hatte Hans Robert Jauss bereits 1963 überzeugend herausgearbeitet, dass Charles Perrault in seiner "Parallèle des Anciens et des Modernes" Zweifel an der fortschreitenden Überlegenheit der modernen Künste hegte. Die Dissoziation der freien Künste in die schönen Künste und Wissenschaften wurde somit unvermeidlich, was die Diskussion architektonischer Fragen nicht einfacher machte. Im Gegenteil, als eine nützliche Kunst, die nicht unwesentlich von der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung abhängt und spätestens seit Etienne-Louis Boullée auch programmatisch den Anspruch der Autonomie vertritt, saß die Architektur fortan zwischen den Stühlen. Ein Problem, dass den gesamten modernen Diskurs bis heute geprägt hat, ja ihn womöglich erst konstituierte. Denn die Tatsache, dass sich der Architekt fortan als Künstler verstand, der sich in aufwändigen vom eigentlichen Planungsprozess losgelösten Bildern der Autonomie seines Faches und seiner theoretischen Grundlagen vergewisserte, ist ohne diesen paradigmatischen Bruch nicht wirklich zu erklären.

Dass derartige, eminent wichtige Zusammenhänge nicht berücksichtig werden, mag Mallgraves Bestreben geschuldet sein, in jeder der chronologisch behandelten Zeitabschnitte die wichtigsten Quellen mitsamt ihren historischen und biografischen Umständen gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen, anstatt eine problemorientierte Vorgehensweise zu wählen. Mit dem Resultat, dass sich die im Vorwort angekündigte Ideengeschichte zuweilen im Dickicht ihrer schier unüberschaubaren Materialfülle verliert, was ihre ganzheitliche Lektüre nicht gerade vereinfacht. Im Gegenteil, nicht immer wird der rote Faden deutlich und zuweilen wirken die konstruierten biografischen und intellektuellen Verflechtungen ein wenig hilflos. Man hätte sich in dem einen oder anderen Fall etwas weniger Vita zugunsten einer intensiveren Beschäftigung mit den jeweiligen Positionen gewünscht. Dies gilt gerade auch dann, wenn sich Mallgrave lobenswerterweise darum bemüht, die behandelten Architekturtheorien in den größeren geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen, aber etwa die eminent wichtige Bedeutung philosophisch-ästhetischer Geschmackskonzepte für die bürgerliche Architekturkritik seit dem 18. Jahrhundert nicht erwähnenswert findet. Der offensichtliche Einfluss John Lockes, Jean-Jacques Rousseaus, David Humes sowie philosophisch gebildeter Kunst- und Literaturkritiker wie Joseph Addison wird hierin allenfalls gestreift, aber kaum nachgewiesen.

Stattdessen breitet sich vor dem Leser die spätestens seit Joseph Rykwerts Studie "The First Moderns" (1980) bekannte Genese moderner Architekturtheorie zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert aus. Von der "Querelle" über die Aufklärung bis hin zum Neoklassizismus werden die Grundzüge der theoretischen Invektiven, Diskussionen und Manifestationen auf der Grundlage einschlägig bekannter Forschungsliteratur aufgezeigt. Dabei berücksichtigt Mallgrave auch noch die landestypischen Unterschiede zwischen Italien, Frankreich und England und behandelt wichtige Kontroversen wie etwa den Griechen-Römer-Streit im 18. Jahrhundert.

In der zweiten Hälfte seiner Darstellung widmet sich Mallgrave dann ausführlich dem Avantgardismus des 20. Jahrhunderts, dem er einen Exkurs zu den wichtigsten Positionen des Fin de Siècle voranstellt. Dabei wird deutlich, dass hier die eigentlichen Forschungsschwerpunkte Mallgraves liegen, der nun sehr viel genauer die einzelnen Quellen analysiert und überzeugender als im ersten Teil in Kontexte einbettet. Hervorzuheben ist, dass Mallgrave im Sinne der neueren Forschungen nicht allein die ausgewiesenen Manifeste Le Corbusiers oder Ludwig Mies van der Rohes einbezieht, sondern darauf verweist, dass Autoren wie August Schmarsow und Heinrich Wölfflin bereits in der Theorie ein architektonisches Ideal formulierten, dem moderne Raum- und Wahrnehmungskonzeptionen zugrunde liegen. Dies insofern, als dass der Raum nun nicht mehr als eine unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung existierende Größe betrachtet wird, sondern als eine subjektive körperliche Erfahrung. Für August Schmarsow stellt sich die Geschichte der Architektur daher im Wesentlichen als eine Geschichte des Raumgefühls dar und Herman Sörgel etwa, auf den Mallgrave leider an dieser Stelle nicht zu sprechen kommt, geht in seiner Architekturästhetik davon aus, dass sich der Raum als Erfahrungsraum erst im Prozess des Wahrnehmens selbst konstituiert.

Nach diesen eher theoretischen Zusammenhängen, die Mallgrave mit der nicht ganz nachvollziehbaren Bemerkung schließt, dass hiermit der Jahrhunderte zuvor von Perrault und François Blondel begonnene Disput in all seiner Konsequenz vollendet worden sei, durchschreitet die Studie in kurz bemessenen Zeiträumen das 20. Jahrhundert mitsamt seinen wichtigsten architekturtheoretischen Tendenzen. Den Anfang macht die Zeit zwischen 1889 und 1914, als deren Protagonisten Mallgrave zurecht Architekten wie Otto Wagner, August Endell, Henry van de Velde, Adolf Loos, Petrus Berlage, Frank Lloyd Wright, Tony Garnier, Auguste Perret und Antonio Sant'Elia betrachtet. Im Anschluss hieran folgt dann die Darstellung wichtiger Positionen der klassischen Moderne zwischen dem Ende des ersten Weltkrieges und der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Hierin widmet sich Mallgrave allerdings nicht allein der Architektur, sondern liefert lobenswerterweise auch die zum weiteren Verständnis nötigen historischen Zusammenhänge.

Mit dem Jahr 1958 endet dann für Mallgrave die uneingeschränkte Akzeptanz der modernen Avantgarde. Nach den Erfahrungen der so genannten Nachkriegsmoderne setzte zunehmend deutlich vernehmbar Kritik an den vulgär-funktionalistischen Fehlentwicklungen ein. 1959 fand der letzte CIAM-Kongress in Otterlo statt, und die sich zuvor mehr oder weniger geschlossen präsentierende Moderne spaltete sich nun unübersehbar. Von hier war es nur ein kleiner Schritt zur grundsätzlichen Kritik, wie sie dann spätestens seit Mitte der Sechzigerjahre in wegweisenden Manifesten und theoretischen Abhandlungen formuliert worden war. Schade nur, dass es Mallgrave am Ende versäumt, den Bogen zwischen 1673 und 1968 zu spannen. Dabei böten sich die Schriften Oswald Mathias Ungers', Aldo Rossis und Giorgio Grassis förmlich hierzu an. Wird hierin doch der Rückgriff auf die Aufklärung gleichsam zum einzig möglichen Ausgang des Architekten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit erklärt. Mallgraves Studie präsentiert somit kaum die versprochene Kontinuität von Ideen, Themen und Problemen moderner Theoriebildung, sondern ein zugegebenermaßen überaus kenntnisreiches und enzyklopädisches Nachschlagewerk chronologisch und geografisch geordneter Positionen. Als solches dürfte es sich seines zukünftigen Platzes in den Regalen der Bibliotheken sicher sein.

Carsten Ruhl