Rezension über:

William Stenhouse: Reading Inscriptions and Writing Ancient History. Historical Scholarship in the Late Renaissance (= Bulletin of the Institute of Classical Studies. Supplement; 86), London: Institute of Classical Studies 2005, x + 204 S., ISBN 978-0-900587-98-6, GBP 50,00
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Rezension von:
Martin Ott
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Martin Ott: Rezension von: William Stenhouse: Reading Inscriptions and Writing Ancient History. Historical Scholarship in the Late Renaissance, London: Institute of Classical Studies 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/8942.html


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William Stenhouse: Reading Inscriptions and Writing Ancient History

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Auf den ersten Blick scheint der Zusammenhang zwischen epigrafischen Studien und der Historiografie der Antike, wie ihn William Stenhouse im Titel seiner bemerkenswerten Londoner Ph.D. Thesis formuliert, auf der Hand zu liegen. Dass die Dinge mit Blick auf das 16. Jahrhundert etwas anders stehen, bedarf der Erläuterung. Denn mit Blick auf die Geschichte der Rezeption antiker Inschriften in der Neuzeit erweist sich die Themenstellung sofort als berechtigt und Stenhouses Ansatz als fruchtbar.

Im 15. und 16. Jahrhundert hatten Renaissancegelehrte römische Inschriften in großer Zahl erfasst und in einer Vielzahl von Handschriften und Drucken der Nachwelt hinterlassen. Viele dieser Inschriften sind im Original heute verloren. Das Streben nach authentischen Texten der Antike hat seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Altertumsforscher auf die Spur dieser gelehrten "Antiquare" geführt. Die moderne Renaissanceforschung hingegen hat sich einer differenzierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Epigrafikern dieser Zeit jahrzehntelang verweigert und ihre Arbeiten als tumbes Sammeln antiken Materials abgetan. Erst in den letzten Jahren offenbaren in einigen jüngeren Studien die epigrafischen Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts ihr Potenzial für die Erforschung der gelehrten Kultur in der Zeit der Renaissance.

William Stenhouse analysiert epigrafische Werke des 16. Jahrhunderts, die zugehörige Korrespondenz und mit einiger Findigkeit eruierte epigrafische Notizen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Ihm geht es um Innovationen in der historiografischen Auseinandersetzung mit dem klassischen Altertum und um den kritischen Umgang mit den Inschriften als historischen Quellen. Entscheidende Fortschritte schreibt er dabei überzeugend einem kleinen Gelehrtenkreis zu, der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts im stadtrömischen Milieu wirkte: Die Gruppe mit Jean Matal, Martin Smet, Antonio Agustín, Onofrio Panvinio und dem bislang kaum beachteten Ottavio Pantagato entwickelte ein neuartiges Instrumentarium der Verzeichnung und kritischen Bewertung von Inschriften und erweiterte so entscheidend deren Potenzial als Quellen der Historiografie. Hintergrund ist die Konkurrenz der Inschriften zu den überlieferten Schriftquellen des Altertums: Zwar boten die Inschriften nur fragmentarische Informationen, doch besaßen sie als unmittelbare Zeugnisse des Altertums besonderes Gewicht. Neben der - und gegebenenfalls auch gegen die - Autorität der überlieferten antiken Literatur stand nun mit den Inschriften ein zweites mächtiges Quellencorpus zur Verfügung.

Welche Fortschritte wurden nun im Einzelnen erzielt? Da ist zunächst die Wiedergabe von Inschriften. Die römischen Antiquare (um den oben vorgestellten Gelehrtenkreis so zu bezeichnen) haben erkannt, welche Informationen über den bloßen Text hinaus die akkurate Darstellung einer Inschrift erbringen kann. Allein aus den Formen der Buchstaben ergeben sich ja Datierungshinweise. Inschriften sollten nun grafisch genau wiedergegeben werden; eine zuvor keineswegs übliche Praxis. Völlig neue Wege gingen die römischen Antiquare in der schriftlichen Zusammenstellung antiker Inschriften: Erstmals ordneten sie die Inschriften kategorisierend nach Textinhalt und Funktion, mit Blick auf eine sachbezogene Auswertung. In hohem Maße sensibilisiert waren die Antiquare für Fragen der Echtheit einer Inschrift. Fälschungen sowohl von Inschriftensteinen als auch von Abbildungen waren an der Tagesordnung. Stenhouse stellt mit Pirro Ligorio einen der berüchtigtsten Fälscher vor, dessen Inschriften allerdings künstlerisch so ansprechend dargeboten waren - und hier auch den neuesten wissenschaftlichen Standards genügten -, dass er, obwohl auch den Zeitgenossen wenig glaubwürdig, im 16. Jahrhundert doch in hohem Ansehen stand. Das Hauptmotiv für Fälschungen war offensichtlich argumentativer Natur, das Streben nach dem vermeintlich authentischen Beleg; gerade Ligorio hatte zusätzlich die humorvolle Täuschung seiner Kollegen im Sinn.

Kritik übten die Antiquare auch bei "echten" Inschriften: Auch hier gingen sie - und das war neu - davon aus, dass Inschriften fehlerhaft sein könnten. Das betrifft etwa Pannen in der handwerklichen Erstellung der Texte. Ebenfalls innovativ war die Identifizierung des ursprünglichen Autors eines Inschriftentextes als mögliche Fehlerquelle.

Zu Recht hinterfragt Stenhouse, ob diese Ideen für die Weiterentwicklung der Historiografie wirklich relevant wurden, basiert seine Studie doch überwiegend auf ungedruckten Quellen. Selbst die epigrafischen Werke der meisten seiner römischen Antiquare blieben unvollendet und unpubliziert. Dennoch kann Stenhouse anhand einiger Fälle darlegen, dass der methodische Fortschritt tatsächlich Früchte getragen hat, bis hin zur großen und abschließenden Sammlung sämtlicher bekannter Inschriften aus der Römerzeit, die Jan Gruter, Marcus Welser und Joseph Scaliger 1602 publiziert haben.

Nun war der von Stenhouse auch in diesem Zusammenhang immer wieder herausgestellte lokalhistorische Ansatz, war die stolze Präsentation von antiken Inschriften aus der eigenen Stadt oder Region schon vor dem Untersuchungszeitraum eine beliebte Praxis. Stenhouse beleuchtet das treffend anhand der Fälschungen des Annius von Viterbo zu Gunsten seiner Heimatstadt; er hat hier aus vielen ähnlichen (wenn auch längst nicht regelmäßig mit Falsifikaten verbundenen) Fällen wählen können. Dass der nun von Stenhouse analysierte neue epigrafische Zugriff gerade für die lokale Forschung außerhalb des engen Gesichtskreises der antiken Geschichtsliteratur neue Möglichkeiten bot, ist bekannt. Inschriftentexte werfen Schlaglichter auf die ansonsten zumeist nur anhand der archäologischen Befunde fassbare römerzeitliche Geschichte von so mancher Provinzstadt. Aus deutscher Sicht ist es dabei erfreulich, dass Stenhouse zumindest an dieser Stelle auch die Renaissancekultur nördlich der Alpen mit im Blick behält: Der Augsburger Gelehrte Marcus Welser hat in seinen Druckwerken zur Augsburger Geschichte im ausgehenden 16. Jahrhundert ja ausgiebig Sachquellen und da vor allem antike Inschriften benutzt. Welsers methodisches Vorgehen kann Stenhouse in vielen Details auf die römischen Antiquare zurückführen und seinen Büchern geradezu Modellcharakter zuschreiben. Etwas bedauerlich ist, dass sich Stenhouse im Kern, in der Frage nach den Ursprüngen des neuen methodischen Ansatzes um die Mitte des 16. Jahrhunderts, auf seinen stadtrömischen Gelehrtenkreis konzentriert. Gerade in Süddeutschland hatte der gelehrte Umgang mit antiken Inschriften ja im 16. Jahrhundert Tradition, und Stenhouse lässt weder den großen Konrad Peutinger, der zu Beginn des Jahrhunderts in Augsburg wirkte, noch die in Ingolstadt erschienenen "Inscriptiones sacrosanctae vetustatis" von Peter Apian und Bartholomäus Amantius gänzlich unerwähnt. Keine Berücksichtigung findet aber der bayerische Historiograf Johannes Aventinus, der bereits um 1530 einen entscheidenden Schritt in der historiografischen Verwertung antiker Inschriften getan hat, indem er die römische Wurzel der Stadt Regensburg aus einer differenzierten Analyse von antiken Sachquellen heraus belegt, dabei auch Inschriftentexte aus dieser Stadt heranzieht und diesen den Vorrang gegenüber der literarischen Überlieferung zur Stadtgeschichte einräumt - was also bereits vor den Schriften der römischen Antiquare vorstellbar war. Ob von solchen lokalgeschichtlichen Ansätzen her Einflüsse nach Rom wirksam wurden, wäre eine durchaus interessante Frage.

Diese Kritikpunkte sollen das Verdienst des vorliegenden Buches keinesfalls schmälern. Stenhouse hat aus seinen doch zumeist spröden Quellen einen wichtigen Aspekt der gelehrten Kultur in der Renaissance vortrefflich ins Bild gesetzt. Dies übrigens auch im wörtlichen Sinne, denn eine Vielzahl von Abbildungen illustriert die Verzeichnungspraxis der einzelnen Antiquare. Dem Band ist zu wünschen, dass ihm die Renaissanceforschung auch über den engen Bereich der Historiografiegeschichte hinaus Aufmerksamkeit schenkt.

Martin Ott