Rezension über:

Julia Schäfer: Vermessen - gezeichnet - verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933, Frankfurt/M.: Campus 2005, 435 S., 69 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-37745-2, EUR 44,90
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Rezension von:
Mirjam Triendl-Zadoff
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Mirjam Triendl-Zadoff: Rezension von: Julia Schäfer: Vermessen - gezeichnet - verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933, Frankfurt/M.: Campus 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/7923.html


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Julia Schäfer: Vermessen - gezeichnet - verlacht

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Im Zentrum der Studie von Julia Schäfer stehen antisemitische Karikaturen in populären Satirezeitungen - gelesen durch die 'Lupen' der Wissenschaft, der Kunst und der politischen Satire. Zu Beginn konstatiert die Autorin den Missstand jener bis heute vorherrschenden Meinung, "es gäbe etwas spezifisch Jüdisches im Ausdruck, in der Sprache, in der mimisch-gestischen Interaktion mit anderen" (11). Auf drei Ebenen - der Verwissenschaftlichung der Lebenswelt durch Sozial- und Rassenhygiene, der Popularisierung antisemitischer Bilder als Ein- und Festschreibung im kulturellen Gedächtnis sowie des Grenzlandes zwischen Humor und Propaganda - betrachtet Schäfer ihr Projekt als Beitrag zur Kulturgeschichte des visuellen Antisemitismus und seiner öffentlichen und populären Anwendung. Mit der Wahl einer Vergleichsstudie zwischen dem österreichischen christlichsozialen Kikeriki und dem deutschen sozialdemokratischen Wahren Jacob sowie ihrem Focus auf die Weimar-Zeit und die Erste Österreichische Republik will Schäfer einerseits parteispezifische Bildersprachen herausarbeiten, andererseits auf die unterschiedlichen Hintergründe und gesellschaftlichen Diskurse in beiden Ländern verweisen.

Nach einem einführenden Kapitel, das einen Überblick über die Historische Bildforschung, das antijüdische Bild und die Geschichte der Karikatur gibt, thematisiert Schäfer die "Semiotik des antijüdischen Bildes" als zentrale Frage und präsentiert ihr Konzept von "Kultur als Deutungsrahmen" (59). Sie beschäftigt sich hier mit dem Visualisierungsprozess an sich, wobei sie immer wieder den interessanten Gedanken von einem "kommunikativen Raum zwischen dem antijüdischen Bild und dem Betrachter" (18) aufnimmt. Im Beschreiben dieses Raums betont sie die Unmöglichkeit, von einer Kultur der Weimarer Republik zu sprechen; stattdessen bezieht sie sich auf ein System von Teilkulturen - ein schlüssiger Gedanke, mit dem die Autorin sich gleichzeitig aber auch einen engen Rahmen setzt, innerhalb dessen Schlussfolgerungen dem Bemühen um Differenzierung zum Opfer fallen. Auf ein ausführliches Kapitel zur Geschichte des pathologisierten jüdischen Körpers folgt eine Beschreibung der Visualisierung dieser Diskurse in der Physiognomik, Rassenanthropologie und schließlich auch der Karikatur. In einem letzten Kapitel beschäftigt sich Schäfer mit der "sozialistischen Bildsprache" (271) und analysiert über den Umweg der Karikaturen den Themenkomplex Sozialismus - Judentum - Antisemitismus, wobei sie dem "Judenbild" als vergleichende propagandistische Konstruktion das idealtypisierte "Arbeiterbild" entgegen stellt.

Eine besonders interessante Beobachtung, die die Verfasserin beim Vergleich der beiden Zeitschriften macht, bezieht sich auf die kurzfristige Übereinstimmung zwischen Kikeriki und Wahrem Jacob während der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Von 1919 bis 1921 bedienten sich sowohl das christlichsoziale Blatt als auch das sozialdemokratische Magazin antisemitischer Stereotype von "Kapitalisten", "Bolschewisten" und "Parvenüs". Allerdings beobachtet Schäfer gleichzeitig auch einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Publikationen: Während der Kikeriki seinen Lesern diese Bilder als antisemitische "Wahrheiten" vermittelte, wie sie von der Christlichsozialen Partei propagiert wurden, benutzte der Wahre Jacob antisemitische Karikaturen als "Chiffre", die der "Popularisierung der sozialdemokratischen, revisionistischen Position innerhalb der SPD" diente (362). Für die folgenden Jahre bis zur Machtübernahme Hitlers sieht die Verfasserin eine wachsende Verschiedenheit der beiden Blätter, die sich besonders in der "Behandlung der Rassenfrage" (363) zeigt: Von sozialdemokratischer Seite wurde diese zunehmend persifliert, während sie im christlichsozialen Kikeriki mit Ernst propagiert wurde.

Julia Schäfer stellt in ihrer aus einer Dissertation hervorgegangenen Studie vielfältige Zusammenhänge her: zwischen Wissenschaftsgeschichte, Gesundheitspolitik und der Popularisierung politischer und wissenschaftlicher Diskurse in Form von antisemitischen Karikaturen. Höchst spannend analysiert sie dabei den Einfluss der Wissenschaft auf das "Training des alltäglichen Laienblicks" (361), der eine "richtige" Lektüre der weithin präsenten Karikaturen erst möglich machte. Sie bearbeitet dieses komplexe Thema vorsichtig, differenziert und höchst präzise, was ihre Analyse vor vergleichbaren Untersuchungen auszeichnet.

In dieser Stärke liegt allerdings auch eine Schwäche des Buches: Nicht immer versteht die Autorin es, die vielfältigen Gedankenstränge und theoretischen Konzepte, die sie innovativ entwickelt und anwendet, zusammenzuführen. So stolpert man in der Fülle der theoretischen Überlegungen und Exkurse dann und wann auch über Schlussfolgerungen, die zu eilig geraten scheinen - wenn beispielsweise das antisemitische Bild des "kleinen Cohn" als Grenzgänger "der Popkultur der Jahrhundertwende bis in die 20er Jahre" zugeordnet wird (82-85), oder an anderer Stelle Leopold Zunz, Heinrich Graetz, Gershom Scholem und Achad Ha-Am als vermeintliche Zeitgenossen in der Auseinandersetzung um die Säkularisierung jüdischer Kultur erscheinen (144 f.).

Nicht ganz unproblematisch sind auch Neu- und Umdefinitionen weitgehend etablierter Begriffe, wenn die Autorin sich beispielsweise gegen eine grundsätzliche Verwendung des Begriffes "antisemitisch" ausspricht, da sie diesen als historisches Konstrukt verstanden wissen möchte (13). Sie benutzt daher neben "antisemitisch" auch die Begriffe "antijüdisch" sowie den recht ungewöhnlichen Ausdruck "antijudaistisch". Inwiefern und auf welcher argumentativen Grundlage sie aber zwischen diesen drei Begriffen unterscheidet, bleibt dem Leser des Buches verborgen.

Eine weitere Schwäche des Bandes, für die vermutlich der Verlag verantwortlich ist, besteht darin, dass die besprochenen Karikaturen - ohnehin nur in einer Auswahl abgebildet (68 von insgesamt 245) - erst am Ende der Untersuchung Platz finden. Symbolisch rücken die Bilder so an den Rand des Textes und nehmen illustratorischen Charakter an. Diese Platzierung reflektiert bis zu einem gewissen Grad auch den Status der Bilder im Text selbst, da den theoretischen Überlegungen weitaus mehr Raum zukommt. Das ist bedauerlich, zumal Schäfers Bildanalysen ungewöhnlich präzise, spannend und sensibel ausfallen (beispielsweise 77-81).

Abgesehen von den erwähnten Kritikpunkten hat Julia Schäfer ein Buch über ein höchst komplexes Thema mit großer Fachkenntnis, wissenschaftlicher Neugier und Offenheit geschrieben. Ihr interdisziplinärer Ansatz und ihr fundiertes Wissen über wissenschaftshistorische, kunstgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Theorien machen es zu einer wichtigen Studie, die sowohl Geschichts- als auch Kunst- und Literaturwissenschaftler beschäftigen wird.

Mirjam Triendl-Zadoff