Rezension über:

Alexandra Kurth: Männer - Bünde - Rituale. Studentenverbindungen seit 1800 (= Campus Forschung; Bd. 878), Frankfurt/M.: Campus 2004, 213 S., ISBN 978-3-593-37623-3, EUR 29,90
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Rezension von:
Dietmar von Reeken
Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dietmar von Reeken: Rezension von: Alexandra Kurth: Männer - Bünde - Rituale. Studentenverbindungen seit 1800, Frankfurt/M.: Campus 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/7371.html


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Alexandra Kurth: Männer - Bünde - Rituale

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Kann eine Frau überhaupt einen Männerbund verstehen? Sollte sich also eine Wissenschaftlerin, noch dazu eine "nichtkorporierte", nicht lieber der Analyse entsprechender (studentischer) Vereinigungen enthalten? Diesen Fragen bzw. den verneinenden Antworten begegnete die Autorin der vorliegenden Dissertation in Kreisen ihrer Untersuchungsobjekte, insbesondere, da sie ihrer Untersuchung eine Gender-Perspektive zu Grunde legte, eine Perspektive, die nach Ansicht vieler Männerbündler völlig unangemessen sei. Dass diese Perspektive aber sehr wohl berechtigt, ja für den Gegenstand von zentraler Bedeutung ist, zeigt die Arbeit von Alexandra Kurth - und dass dies von interessierter Seite in Frage gestellt wird, ist ein Teil des Gegenstandes selbst, zeigt doch die Tatsache, dass eine solche Untersuchung als Angriff auf das Selbstverständnis empfunden wird, wie sehr Teile der Studentenverbindungen nach wie vor von traditionellen Geschlechterstereotypen geprägt sind.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Druckfassung einer Gießener soziologischen Dissertation. Ausgangspunkt der Arbeit ist die These, "dass Studentenverbindungen eine der zentralen sekundären Sozialisationsagenturen der in Deutschland modellsetzenden Schichten - vor allem des Bürgertums - waren und teilweise noch sind. Sie gehör(t)en damit zu denjenigen sozialen Figurationen, anhand deren die Ambivalenzen des deutschen Zivilisationsprozesses paradigmatisch gezeigt werden können." (13). Der Autorin geht es also darum, die Besonderheiten des deutschen Modernisierungsprozesses (Besonderheiten im Vergleich zu anderen Formen der Modernisierung) an einem besonders prägnanten und gleichzeitig große Teile der deutschen (männlichen) Eliten prägenden Beispiel zu veranschaulichen. Dabei greift sie weit in die Geschichte zurück, um die Vorgeschichte und Vorläufer der modernen Studentenverbindungen ermitteln zu können, strebt aber keine Gesamtdarstellung des Verbindungswesens an. Dass es sich um eine soziologische und keine historische Arbeit handelt, zeigt zum einen ihr expliziter Ausgang von der Gegenwart, denn die Arbeit beginnt nach der Einleitung mit einem Überblick über die heutigen Strukturen des Verbindungswesens, das die Autorin in einer klaren Kontinuität zum 19. Jahrhundert sieht, zum anderen an der eher die Ausgangsthese an ausgewählten Quellen verdeutlichenden als wirklich in die Tiefe gehenden, quellengesättigten Vorgehensweise. Ihre Materialgrundlage sind daher auch keine Archivquellen - sicher richtig ist ihre Bemerkung, dass an die Privatarchive der Verbindungen nur schwer heranzukommen ist, dennoch wäre eine solche Arbeit sicher über andere Ressourcen (Beobachtungen der Verbindungen durch staatliche Organe, autobiografisches Material usw.) machbar. Kurth stützt sich dagegen auf veröffentlichte Selbstaussagen und andere publizierte Quellen (Satzungen, Handbücher etc.). Theoretische Grundlage der Arbeit ist die Zivilisationstheorie Norbert Elias', die Kurth durch die bei Elias nur partiell berücksichtigte Geschlechterperspektive ergänzen will.

Die Studie gliedert sich neben Einleitung und Schluss in fünf Hauptkapitel. Kapitel 2 liefert, wie gesagt, eine knappe "Phänomenologie des heutigen Verbindungsstudententums", der in Kapitel 3 ein historischer Überblick über Vorformen und Nebenwege studentischer und ähnlicher Bündnisse und Vergemeinschaftungen vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert folgt. Kapitel 4 setzt diese historisch-genetische Vorgehensweise ins 19. Jahrhundert, der eigentlichen Untersuchungszeit, fort. In der Gründung der modernen Studentenverbindungen, ihrer Radikalisierung und Politisierung seit der Illegalität in den 1820er- und 1830er-Jahren, der Abstreifung ihrer anfangs durchaus vorhandenen demokratischen Züge und der Ausformung ihrer antidemokratischen Ideologie im Kaiserreich sieht Kurth ein Beispiel für die partielle Modernisierung der deutschen Gesellschaft - ein Kind des Modernisierungsprozesses waren die Verbindungen, weil Standesunterschiede in ihnen kaum noch eine Rolle spielten, gleichzeitig griffen sie aber "auf Ehrvorstellungen der ständisch-feudalen Gesellschaft" (97, vgl. auch 99) zurück; die Bünde waren daher sowohl ein Kind der Moderne als auch ein Gegenbild zu ihr. Zentrale Bestandteile der Ideologie der Studentenverbindungen waren Ende des 19. Jahrhunderts Antisemitismus, Antisozialismus und Antifeminismus; die Ideologeme analysiert die Autorin auf Grundlage von zeitgenössischen Veröffentlichungen in Kapitel 5. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass die Studentenverbindungen ideologisch - und wohl auch durch personelle Verflechtungen, die Kurth aber nicht behandelt - Teil einer völkischen Bewegung wurden, die dann zum Teil nach 1918 in den Nationalsozialismus mündete, wie Kurth in Kapitel 6 (allerdings nur zum Teil (6.4.) explizit bezogen auf die Studentenverbindungen) analysiert.

Insgesamt kann die Studie im Anschluss an die jüngere Forschung zeigen, dass männerbündische Vorstellungen eine zentrale Rolle bei der Bildung der deutschen Nation und vor allem der Konstituierung antidemokratischer Netzwerke und Ideologien seit dem 19. Jahrhundert spielten; die Bedeutung genderspezifischer Fragestellungen für die moderne deutsche Geschichte werden erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Gleichzeitig liefert die Arbeit eine gute Grundlage für die weitere Forschung zu den Studentenverbindungen, lässt aber auch noch weite Forschungsfelder offen, was durch ihre explizite Beschränkung nicht anders zu erwarten war. Notwendig wären u. a. quellengesättigte historische Studien, die nicht nur die Diskurse analysierten, sondern auch z. B. die Vernetzungen mit anderen Organisationen oder die Formen und Ergebnisse der Rekrutierungen von Eliten durch die Studentenverbindungen. Und um den Beitrag der Studentenverbindungen zur spezifisch deutschen Variante des Modernisierungsprozesses beurteilen zu können, wären vor allem international vergleichende Studien notwendig - dieser Blick über die Grenzen fehlt in der Arbeit Kurths leider weitgehend, sodass ihre Argumentation zwar in sich schlüssig, ohne Vergleichsperspektive aber noch nicht hinreichend ausgeschärft ist.

Dietmar von Reeken