Rezension über:

Uta Lohmann / Ingrid Lohmann (Hgg.): "Lerne Vernunft!". Jüdische Erziehungsprogramme zwischen Tradition und Modernisierung; Quellentexte aus der Zeit der Haskala 1760-1811 (= Jüdische Bildungsgeschichte; Bd. 6), Münster: Waxmann 2005, 582 S., ISBN 978-3-8309-1504-1, EUR 49,90
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Rezension von:
Caroline Huber
Abteilung für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Historische Bildungsforschung, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Caroline Huber: Rezension von: Uta Lohmann / Ingrid Lohmann (Hgg.): "Lerne Vernunft!". Jüdische Erziehungsprogramme zwischen Tradition und Modernisierung; Quellentexte aus der Zeit der Haskala 1760-1811, Münster: Waxmann 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/10487.html


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Uta Lohmann / Ingrid Lohmann (Hgg.): "Lerne Vernunft!"

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Der vorliegende Band leistet einen Beitrag zur Erforschung jüdischer Bildungsgeschichte in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung. Er versammelt eine Vielzahl von Textdokumenten jüdischer Aufklärer (Maskilim). Sie ermöglichen einen Einblick in deren Programmatik für eine Erneuerung jüdischer Kultur und Erziehung, in ihren Beitrag zu den Debatten der Aufklärungszeit sowie in den Diskurs der Maskilim untereinander und mit den christlichen Gelehrten ihrer Zeit. Zwar - so die Herausgeberinnen - sei die Epoche der Aufklärung unter vielfältigen erziehungs- und bildungstheoretischen Aspekten erforscht und quellenmäßig erschlossen, gerade aber für eine bildungshistorisch informierte und reflektierte Auseinandersetzung mit dem jüdischen Anteil an dieser Epoche fehle es jedoch an gut zugänglichen Primärquellen (11). Der vorliegende Band stellt nach der ebenfalls von Ingrid Lohmann und Uta Lohmann herausgegebenen Quellensammlung zur jüdischen Freischule in Berlin [1] den zweiten Quellenband der Schriftenreihe "Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland" dar. Mit ihm setzen Lohmann und Lohmann ihr Bestreben zur Schließung der Forschungslücken im Bereich der jüdischen Bildungsgeschichte in Deutschland fort.

Die Textdokumente entstammen dem Zeitraum zwischen 1760 und 1811/12. Die Auswahl der Texte erfolgte nach deren Zugehörigkeit zur Haskala im engeren Sinne und ihrer Bedeutung für den jüdischen aufklärerischen Erziehungsdiskurs. Neben bekannten Maskilim wie Peter Beer, David Caro, Isaak Euchel, Isaak Satanow und Hartwig Wessely kommen zur Erweiterung der Themen und der individuellen Motive für eine Teilnahme am aufklärerischen Projekt auch weniger namhafte Autoren zu Wort. Auf diese Weise wird vermieden, dass ausschließlich die größeren Zentren der Haskala in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken.

Als Anfangspunkt für die Auswahl der Textdokumente wählen die Herausgeberinnen das Erscheinen des ersten zweisprachigen hebräisch-deutschen Bibellexikons. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, mit der von ihnen begonnenen Verknüpfung von jüdischer Religion und Kultur mit der jeweiligen Landessprache, hätten - so die Herausgeberinnen - die Maskilim die Prioritäten im traditionellen System jüdischer Erziehung und Bildung anders gesetzt und so zu dessen Erneuerung beigetragen (16). Die Auswahl der Quellen endet mit Texten aus dem Jahr 1811, dem Zeitpunkt unmittelbar vor der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Preußen 1812 und dem Übergang zur Epoche der Emanzipation.

Die ausgewählten Textdokumente bilden das Bemühen der Maskilim ab, die gesamte jüdische Bevölkerung im Sinne der aufklärerischen Philosophie zu vernünftigem Denken und vernünftigen Maximen zu erziehen und zu bilden. "Lerne Vernunft!" - so lautet ihr Motto; die Vorstellung, dass vernünftiges Denken und Handeln unterrichtet und erlernt werden könne. In den ausgewählten Schriften legen die Maskilim ihre Auffassung von der notwendigen Transformation der jüdischen Erziehung programmatisch dar, und zwar mit ganz unterschiedlichen Aspekten. Die Texte des ersten Teils des Bandes (unter anderem von Hartwig Wessely, Isaak Satanow und David Friedländer) widmen sich in ihren Betrachtungen dem Verhältnis von "Tora und Vernunft", "Talmud und Wissenschaften". Der zweite Abschnitt rückt Abhandlungen (unter anderem von Michael Heß und Peter Beer) in den Mittelpunkt, die sich mit der religiös-ethischen Erziehung zu Moral und Sittlichkeit befassen. Die Autoren des dritten Abschnitts des Bandes beschäftigen sich mit dem Thema Bildung durch literarische Dialoge und Briefe, die des vierten stellen in den Mittelpunkt ihres Interesses die Bildung durch Schreib- und Spracherwerb. Der fünfte Abschnitt vereint Autoren (unter anderem David Caro und David Fränkel), die sich unter Rezeption und Austausch mit dem Philanthropismus mit der Erneuerung jüdischer Erziehungstheorie beschäftigen. Der sechste Teil umfasst Texte, die das Verharren in jüdischen Traditionen kritisieren und die Beteiligung der Autoren an der Diskussion um ein neues, bürgerliches Bildungsideal widerspiegeln. Die beiden letzten Abschnitte des Bandes schließlich enthalten Schulreden und Einleitungen zu Lehrbüchern. Deutlich wird aus den ausgewählten Texten, dass die Maskilim mit der Erneuerung von Kultur und Unterricht stets auch eine Erneuerung der Religion beabsichtigten. Die Erneuerung der Religion erachteten die meisten der Maskilim als Voraussetzung für die Integration der Judenschaft in die sie umgebende Gesellschaft und für die Überwindung von Vorurteilen.

Die Texte liegen sämtlich in deutscher Übersetzung vor. Die ursprünglichen Texte sind entweder in Deutsch oder anderen Landessprachen, Hebräisch oder Jüdisch-Deutsch beziehungsweise Jiddisch verfasst. Die Maskilim bedienten sich des Deutschen beziehungsweise anderer Landessprachen, um in den Diskurs mit den aus dem christlichen Kulturkreis stammenden Aufklärern einzutreten oder die Angehörigen der eigenen Oberschicht zu erreichen. Hebräisch oder Jüdisch-Deutsch verwendeten sie, um die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf die eigenen antiken und mittelalterlichen sprachlichen und kulturellen Wurzeln und einer Erneuerung des verschütteten geistigen Erbes zu unterstreichen oder um die traditionsorientierte jüdische Bevölkerung und ihre Wortführer zu erreichen.

Einleitend sind die Texte mit der - so notwendig - deutschen Übersetzung des Originaltitels sowie dem Originaltitel der jeweiligen Abhandlung und Angaben zu Erscheinungsort und -jahr versehen. Teilweise sind Abdrucke der originalen Titelblätter der Schriften den eigentlichen Texten vorangestellt. Kurzbiographien der Autoren, ein umfangreiches Glossar sowie ein Sach- und Personenregister runden den Band ab.

Der Band bietet mit dem Abdruck und der Übersetzung ansonsten teilweise schwer zugänglicher Quellentexte die Grundlage für weitere Forschung und erlaubt einen umfassenden und informativen Einblick in die Programmatik und Ziele der Maskilim für das jüdische Bildungs- und Erziehungswesen. Es leistet einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der jüdischen Bildungsgeschichte in Deutschland.


Anmerkung:

[1] Ingrid Lohmann/Uta Lohmann (Hg.): Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778-1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kulturreform. Eine Quellensammlung (= Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, Bd. 1), Münster/New York/München/Berlin 2001.

Caroline Huber