Rezension über:

Helmut Strizek: Geschenkte Kolonien. Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft. Mit einem Essay über die Entwicklung bis zur Gegenwart (= Schlaglichter der Kolonialgeschichte; Bd. 4), Berlin: Ch. Links Verlag 2006, 224 S., ISBN 978-3-86153-390-0, EUR 19,90
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Rezension von:
Dirk van Laak
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Nikolaus Buschmann
Empfohlene Zitierweise:
Dirk van Laak: Rezension von: Helmut Strizek: Geschenkte Kolonien. Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft. Mit einem Essay über die Entwicklung bis zur Gegenwart, Berlin: Ch. Links Verlag 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/10170.html


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Helmut Strizek: Geschenkte Kolonien

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Ruanda und Burundi gehören zu den kleineren innerafrikanischen Staaten, über die man außerhalb Afrikas wenig hört noch wissen will. Gerade dieser Umstand trug allerdings dazu bei, dass die Weltöffentlichkeit beide Länder seit 1994 nicht mehr vergessen kann. Der genozidale Konflikt zwischen den Hutu und den Tutsi ist innerhalb der Diskussionen um die politische, ethische und völkerrechtliche Weltordnung der Gegenwart vielmehr zu einem Symbol für das kollektive "Wegschauen" geworden. Helmut Strizek, der für deutsche und europäische Institutionen lange Jahre in Ruanda und Burundi tätig war, ordnet den Massenmord Ursprüngen zu, die weit vor der Kolonialepoche liegen. Das Buch ist in der verdienstvollen Reihe "Schlaglichter der Kolonialgeschichte" des Ch. Links Verlags erschienen. Es bietet eine knappe, aber abgewogene und facettenreiche Darstellung der Geschichte Ruandas und Burundis, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt. Durch Karten, zahlreiche Bilder, Strukturdaten, Zeittafeln, bio- und bibliografische Angaben sowie drei Register ist der Band ungewöhnlich vollständig ausgestattet. Zu den gegenwärtigen Definitionsdebatten über "Völkermord", "Vergangenheitspolitik" oder postkoloniale "Gedächtnisgeschichte" bezieht der Autor aber keine Stellung. Stattdessen bietet er erfreulich nüchterne Informationen über die zentralafrikanischen Gebiete und ihre Bewohner, die bis in die Gegenwart Spielbälle außerafrikanischer Interessen waren. Die Afrikaner erscheinen bei Strizek aber keinesfalls als passive Objekte der großen Politik. Ihre vorkoloniale Lebensweise wird ebenso dargestellt wie die Kalküle einzelner Gruppen und Herrscher, sich mit den Kolonisatoren zu arrangieren oder Vorteile aus den gewandelten Machtverhältnissen nach dem Eintreffen der Europäer zu ziehen.

Strizeks prägnante und balancierte Darstellung kann weitgehend voraussetzungslos nachvollzogen werden. In die Ursachen der kolonialen Expansion wird der Leser ebenso knapp eingeführt wie in die Umstände der afrikanischen Teilung. Zwölf Exkurse vertiefen die Kenntnis wichtiger Personen oder einzelner Vorgänge. Dabei werden in erfrischender Weise Verhältnismäßigkeiten sichtbar. So stellt der Autor dar, wie die nie mehr als 150 Deutschen in Ruanda und Burundi sich zwischen 1897 und 1916 von Pseudokönigen oder dem höfischen Zeremoniell blenden ließen. Die einflussreiche ruandische Königinmutter Kanjogera bekamen sie erst gar nicht zu Gesicht. In vielen von Strizek geschilderten Episoden werden "kulturelle Missverständnisse" sichtbar, die der kolonialen Situation ihre spezifische Dynamik verliehen. Da sie aber auch Spielräume gegenüber den europäischen Eindringlingen ließen, kennzeichnet Strizek die Afrikaner als "teilautonome Subjekte" (10). Umgekehrt hing es in ungewöhnlich starkem Maße von der Vorurteilsstruktur, der Neugier und der selbst gewählten Rolle der deutschen Kolonisatoren vor Ort ab, welche Politik gegenüber den "Eingeborenen" tatsächlich betrieben wurde. Gesondert portraitiert werden Gustav Adolf Graf von Götzen, Richard Kandt, Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg, Jan Czekanowski und Hans Meyer, die alle mit einem originär wissenschaftlichen Interesse nach Afrika gingen. Daneben erfährt man manches Erhellende über den burundischen König Mwesi Gisabo oder den ruandischen König Yuhi Musinga, der sich einem zeitgenössischen Beobachter nach "stets Mühe gab, dämlich zu erscheinen, wenn ihm die Wünsche der Europäer unbequem zu sein schienen" (89).

Insgesamt erscheint die Kolonisierung von Ruanda und Burundi als das, was sie in den meisten Gebieten Afrikas war: eine zunächst sehr oberflächlich bleibende "Inbesitznahme", von der ein Großteil der indigenen Bevölkerung kaum etwas mitbekam. Die dem Deutschen Reich bei der Berliner Afrika-Konferenz 1885 zugefallenen, also gleichsam "geschenkten" Gebiete blieben bis ins frühe 20. Jahrhundert nahezu unerforscht. Diverse Expeditionen erschlossen das Territorium zunächst karthografisch, und erst 1910 konnten sich Deutsche, Briten und Belgier auf einen genauen Grenzverlauf einigen. Einzelne "Residenten" der deutschen Kolonialherrschaft waren zwar präsent und gingen mit den Königen oder lokalen Herrschern Machtbündnisse ein, um eine Art "indirekter Herrschaft" zu etablieren. Von effektiven Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft konnte aber erst die Rede sein, als die deutschen Verwaltungen - und mehr noch die Missionen - Einfluss auf das innere Gefüge der afrikanischen Gesellschaften nahmen. Vor allem die sprachliche und religiöse Codierung wirkte nachhaltig in die Bevölkerung hinein, sattelte aber vielfach auf bereits vorhandenen sozialen Strukturen auf. Bestehende Spannungen wurden dadurch oft weiter verschärft. Wirtschaftlich brachte die Produktion von Tee und Kaffee zwar exportfähige Waren hervor, bedingte mit Bodenerosion, Bevölkerungsvermehrung und weltwirtschaftlicher Abhängigkeit aber auch Entwicklungen, die so viele spät- und nachkoloniale Ökonomien in die fatalen Kreisläufe der "Unterentwicklung" drängte. Von den Deutschen, die 1916 durch Belgier und Briten aus Ruanda und Burundi vertrieben wurden, blieben letztlich nur einige Straßen, Gebäude und Schulen zurück. Die anschließende Treuhänderschaft der Belgier, die vor allem dem Katholizismus zum Durchbruch verhalf, muss wohl für die Geschichte Ruandas und Burundis als sehr viel nachhaltiger eingeschätzt werden.

Der rote Faden von Strizeks Darstellung ist jedoch die Spannung zwischen den "bäuerlichen" Hutu und den "adligen" Tutsi, die ihren - oft auch körperlich - herausgehobenen Status aus einer scheinbar überlegenen Herkunft ableiteten. Diese Konstruktion wurde von den europäischen Kolonisatoren beibehalten und zur so genannten Hamiten-Theorie ausgebaut. Danach handelte es sich bei den Tutsi um ein aus dem äthiopischen Raum zugewandertes Volk, das gegenüber den Zentralafrikanern als "höherwertig" galt. Als rassisches Ideologem, das in den Tutsi gleichsam "schwarze Europäer" wahrnimmt, hält sich die Theorie bis in die Gegenwart. Obwohl die sozialen Spannungen zwischen Hutu und Tutsi von Teilen der belgischen Mandatsverwaltung und den überwiegend katholischen Missionaren gezielt gefördert wurden, wird deutlich, dass sie ihre Ursachen nicht in der Kolonialpolitik besitzen. Letztlich bleibt das abschließende Kapitel über die Zeit nach der deutschen Kolonialzeit aber gerade im Zulauf auf die Ereignisse von 1994 (sowie ein vorgängiges Pogrom an hunderttausenden von alphabetisierten Hutu im Jahr 1972) allzu knapp. Ohne dass sich an der Textform etwas änderte, wird es daher vom Autor vorsichtshalber als "Essay" bezeichnet.

Dabei erscheint die Zeit seit der Unabhängigkeit vielfach als die abstruseste Phase der jüngeren afrikanischen Geschichte. Die Logik des Kalten Krieges und der Sicherung von Einflusssphären provozierte die seltsamsten Koalitionen. So unterstützten etwa die Sowjets den antikolonial auftretenden "Feudaladel" der Tutsi, während der "freie Westen" von Mal zu Mal "Erziehungsdiktatoren" wie den ruandischen Generalmajor Juvénal Habyarimana oder sein noch weitaus rücksichtsloseres Pendant im benachbarten Kongo, Joseph Désiré Mobutu, unterstützte. Das mit wenigen Einschränkungen rundum gelungene Buch Strizeks endet mit einem Ausblick auf die Wahlen des Sommers 2006 im Kongo, die eine erneute Präsenz deutscher Soldaten im Herzen Afrikas mit sich brachten. Das kann nur derjenige für unproblematisch halten, der historische Reminiszenzen, wie sie von Strizek für Ruanda und Burundi geboten werden, nicht zur Kenntnis nimmt.

Dirk van Laak