Rezension über:

David Bindman (ed.): John Flaxman 1755-1826. Master of the Purest Line, London: Sir John Soane's Museum 2003, 64 S., ISBN 978-0-9542284-2-2, GBP 10,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Johannes Myssok
Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Myssok: Rezension von: David Bindman (ed.): John Flaxman 1755-1826. Master of the Purest Line, London: Sir John Soane's Museum 2003, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/10104.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

David Bindman (ed.): John Flaxman 1755-1826

Textgröße: A A A

John Flaxman zählt nach wie vor zu den weniger bekannten großen Künstlern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in England. Dies mag unter anderem daran liegen, dass der von den Zeitgenossen als introvertiert und zurückhaltend geschilderte Bildhauer eben nicht wie seine Künstlerkollegen William Blake oder Heinrich Füssli fantastische, ja mitunter gar abgründige Bilder entwarf, welche heute ihre Attraktivität auch für ein breiteres Publikum begründen. Diese mangelnde Fama entspricht jedoch keineswegs der einstigen Bedeutung Flaxmans, war er doch europaweit einer der bekanntesten und geschätztesten Künstler 'um 1800'. Als solchen feierte ihn noch 1979 die große Doppelausstellung in London und Hamburg als Teil von Werner Hofmanns Zyklus zu Künstlern um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Im gleichen Jahr publizierte David Irwin seine umfassende Monografie zum Künstler, und Sarah Symmons Studie zur europäischen Wirkung der Flaxman-Illustrationen erschien wenig später 1984. [1] Danach wurde es ruhig um den Bildhauer, und erst die Londoner Ausstellung des Jahres 2003, deren Katalog hier zu besprechen ist, unternahm es erneut, ein umfassenderes Bild des Werks zu zeichnen.

Die von David Bindman initiierte Ausstellung fokussiert die beiden wichtigsten Sammlungen von Werken Flaxmans in London, diejenige im Sir John Soane's Museum und die im University College. Bemerkenswert an Ausstellung und Katalog ist dabei, dass hier die eigene universitäre Sammlung dazu genutzt wurde, um mit einem M.A.-Kurs eine Aufarbeitung der Bestände zu unternehmen und diese in der vorliegenden Form exemplarisch zu publizieren.

Der knappe Katalog umfasst neben der Einführung Bindmans sechs kurze Essays, die in grundlegende Themenbereiche der Forschung zu Flaxmans Œuvre einführen. Dem folgt ein dreigeteilter Katalog der ausgestellten Werke im Strang Print Room des University College, im Sir John Soane's Museum sowie weiterer, überwiegend dokumentarischer Objekte zur Geschichte der Universitätssammlung.

Schwerpunkt der Ausstellung und des Katalogs ist - wie bereits der Titel erraten lässt - Flaxmans zeichnerisches Œuvre und hierin besonders seine Umrisszeichnungen zu Homer, Dante und Aischylos, denen er seinen europaweiten Ruhm verdankte. Doch werden diese hier durchaus als Ergebnis eines Prozesses verstanden, zu dem auch essenziell seine bereits stilisierten Skizzen nach Alltagsszenen gehörten, aus denen er dann vielfach in mehreren Schritten die äußerst reduzierten Vorlagen seiner Stichillustrationen destillierte. Eben die Entstehung von Flaxmans höchst individueller Zeichenmanier und des gesamteuropäischen Phänomens der Umrissstiche verfolgt Deanna Petherbridge in ihrem Essay, in dem sie auch völlig zu Recht darauf hinweist, dass seine Italienreise wie für viele weitere Künstler der Zeit eine katalytische Funktion besaß. Doch wie auch von Petherbridge hervorgehoben, löste Flaxmans Begegnung mit Italien eine geradezu dialektische Reaktion aus, denn einerseits proklamierte er wie seine klassizistischen Mitstreiter die absolute Vorbildhaftigkeit der 'griechischen' Kunst, andererseits gehört er zu den Künstlern, die früh das 'Gothick Revival' betrieben. Entsprechend schuf er nach seiner Rückkehr in England nahezu ausschließlich Grabmäler im neogotischen Stil. Die sich hierdurch abzeichnende Problematik ist allerdings weitaus vielschichtiger als im Katalogessay angesprochen. So liegt die Motivation hinter der Stilwahl in der Suche des 18. Jahrhunderts nach dem Ursprünglichen und damit auch zunehmend nach dem Archaischen oder Primitiven, dem schon damals eine größere Unmittelbarkeit und Kraft des Ausdrucks zugeschrieben wurde als den neuzeitlichen Stilen in Europa. [2] So sind die vielfach beschriebene klassizistische Reduktion und die 'gotische' Stilisierung bei Flaxman letztlich nur zwei Seiten der gleichen Medaille und lassen sich in den Zeichnungen oftmals gar nicht voneinander trennen.

Die Essays und der Katalog gehen nun vor allem im Bereich der Sammlungsgeschichte über die bisherige Forschung hinaus, auch wenn der Beitrag von Allison Wright eine sehr knappe, gleichwohl aber äußerst wünschenswerte Skizze zum Einfluss von Swedenborg auf Flaxman bietet. Helen Doreys Essay beleuchtet sodann nicht nur das persönliche Verhältnis zwischen Flaxman und John Soane, sondern verfolgt vor allem auch Soanes Sammlung von Werken des Bildhauers und deren wechselnde Aufstellung bzw. Kontextualisierung, wodurch der Beitrag auch in museologischer Perspektive instruktiv zu lesen ist. Sowohl Doreys als auch Bethan Stevens Essay fokussieren darüber hinaus erstmalig umfassender die Rolle von Flaxmans Ehefrau und die seiner Schwägerin, die neben vielen konkreten Aufgaben zu Lebzeiten des Künstlers den Erhalt seines Œuvres ebenso sicherten wie sein Nachleben.

Ein Anlass zur erneuten Auseinandersetzung mit Flaxman in diesem Rahmen war die Restaurierung und rekonstruktive Wiederherstellung der Flaxman-Galerie im University College, in der ein Großteil der plastischen Modelle des Bildhauers aufbewahrt wird. Wie Eckart Marchand in seinem Beitrag zu dieser Sammlung und ihrer jüngsten Restaurierung völlig zu Recht hervorhebt, lässt sich diese in ihrer Bedeutung nur mit der berühmten Gipsoteca in Possagno vergleichen, auch wenn das Format und die Zahl der Londoner Modelle bei weitem nicht derjenigen Canovas entspricht. Und gerade an dieser Stelle zeigt sich auch ein grundlegender Unterschied im Œuvre, der zu der ungleichen Fama der beiden befreundeten Bildhauer führte: während Flaxman nach seiner Rückkehr aus Italien - sehr zum eigenen Bedauern - seine Existenz durch die Verfertigung von Grabmälern sichern musste, konnte der Italiener seine 'new classics' als antikennahe Skulpturen mit überwiegend paganen Themen verwirklichen und erfreute sich einer internationalen, insbesondere aber auch einer englischen Auftraggeberschaft - eben jener reichen Connaisseurs, die Flaxman daheim in England derartige Aufträge verweigerten.

So entstand die überwiegende Zahl plastischer Modelle im University College für Grabmäler Flaxmans; ein Umstand, der zwar die Attraktivität der Exponate gewiss einschränkt, doch wie David Bindman in seiner Einleitung hervorhebt, erlaubt es gerade die räumliche Nähe der plastischen Modelle in der Galerie zu den Zeichnungen im Strang Print-Room und alsdann der Schritt in die Londoner Kirchen zum ausgeführten Grabmal, den gesamten Werkprozess nachzuverfolgen. Im Katalog sind diese einzelnen Exponate auch ganz systematisch nach ihrer Aufstellung und nach Werkkomplexen geordnet, doch ist leider die Gelegenheit verpasst worden, den Werkprozess exemplarisch nachzuvollziehen und zu beschreiben. Ebenso hätte es sich angeboten, die didaktische Tätigkeit Flaxmans an der Royal Academy, wie sie in seinen offenbar nicht gerade inspirierten 'Lectures' dokumentiert ist, nicht nur vor dem Hintergrund der Kunsttheorie zu lesen, sondern diese auch zu seinen Werken in Bezug zu setzen, wie dies bereits Irwin skizziert hat.

Auch wenn die Ausstellung und ihr Katalog nur einige Facetten des vielschichtigen Künstlers beleuchten, bleibt doch als erfreulich festzuhalten, dass der Flaxman des Ausstellungskatalogs von 'Mythologie und Industrie' offenbar glücklich überwunden ist und der Bildhauer nun einer grundlegenden und umfassenden Wiederentdeckung harrt. Hierzu würde vor allem eine systematische Untersuchung seiner gesamten Zeichnungen einen wichtigen Beitrag leisten, ein erster Schritt in diese Richtung ist mit 'Flaxman - Master of the purest line' getan.


Anmerkungen:

[1] John Flaxman: Mythologie und Industrie, hg. v. Werner Hofmann, Katalogredaktion David Bindman / Hanna Hohl, München 1979; David Irwin: John Flaxman: 1755 - 1826. Sculptor, illustrator, designer, London 1979; Sarah Symmons: Flaxman and Europe: the outline illustrations and their influence, New York u.a. 1984.

[2] Hierzu: Seymour Howard: Archaisms and attitudes in italianate Neo-Classical sculpture, in: La scultura nel 19 secolo [Akten d. XXIV. C.I.H.A. Kongr. Bologna 1979], a cura di H.W. Janson, Bologna 1984, 9-15; Frances Susan Connelly: The origins and development of primitivism in eighteenth and nineteenth-century European art and aesthetics [Univ. Diss. Pittsburgh 1987], Ann Arbor 1987 u. dies.: The sleep of reason: primitivism in modern European art and aesthetics, 1725-1907, University Park 1995.

Johannes Myssok