Rezension über:

B. Ann Tlusty: Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg (= Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben; Bd. 34), Augsburg: Wißner 2005, VIII + 293 S., ISBN 978-3-89639-513-9, EUR 21,80
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Rezension von:
Bastian Fleermann
Volkskundliches Seminar, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Stellungnahmen zu dieser Rezension:
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Fleermann: Rezension von: B. Ann Tlusty: Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg, Augsburg: Wißner 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/10217.html


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B. Ann Tlusty: Bacchus und die bürgerliche Ordnung

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Um einen wichtigen Punkt vorweg zu nehmen: Die Behauptung der Autorin, die Thematik des Trinkens in der Geschichte sei "für eine primär stadtgeschichtliche Untersuchung" äußerst ungewöhnlich, muss zurückgewiesen werden: Denn schon seit vielen Jahren ist der Alkoholkonsum der Vormoderne immer wieder Gegenstand zahlreicher Forschungen der deutschen Sozialgeschichte oder der Volkskunde gewesen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stehen neben dem empirisch fassbaren Verbrauch, der Besteuerung oder der Herstellung von Alkoholika vor allem die alltäglichen Ausprägungen und kulturellen Normensysteme, auf die der gesellschaftliche Umgang mit berauschenden Getränken schließen lässt. Der vorliegende Band der amerikanischen Historikerin B. Ann Tlusty beweist erneut, welche entscheidende Schlüsselrolle der Alkohol in den europäischen Gesellschaften als Indikator für sozialhistorische Prozesse einnahm. Zugleich zeigen sich die ungebrochenen methodologischen Vorzüge der Mikrostudie, welche die Autorin für die Reichsstadt Augsburg ganz ähnlich angewandt hat wie beispielsweise Gunther Hirschfelder kürzlich für die frühindustriellen Gewerbezentren Aachen und Manchester. [1] Nun ist Tlustys Studie (2001) [2] in deutscher Übersetzung erschienen.

Die Gliederung der Arbeit ist vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Forschungslage ebenso konventionell wie einleuchtend und durchaus argumentativ begründet. Tlusty stellt den Leser zunächst vor das Problem, den Alkohol als Gegenstand in den Kanon der Geschichtswissenschaft zu integrieren, bemerkt eine stark ausgeprägte Heterogenität der herangezogenen Quellenmaterialien (11 f.), um schließlich einen kurzen Überblick über die deutsche Trinkliteratur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit vorzustellen. Methodische Anleihen macht die Autorin zudem bei den zentralen Impulsgebern aus der Soziologie oder der historischen Sozialwissenschaft, namentlich bei Max Weber, Norbert Elias und Gerhard Oestreich.

Alkohol erweist sich auch in dieser Studie als wichtiger Filter für das gesellschaftliche Leben einer Stadt, für die historisch gewachsenen Strukturen des gemeinschaftlichen Trinkens, für die Bedeutung von Ritualen, Trinkversen und Brauchkultur. Dabei stellt die Autorin auch den gender-Aspekt - und damit die Frage, wie unterschiedlich das Verhältnis von Männern und Frauen zum Alkohol ausgeprägt sein konnte - in den Mittelpunkt ihrer Studie (135 f.). Sie verweist auf die Funktion der Wirtshäuser als Brennpunkte und Kulminationsorte städtischer "Volkskultur" im öffentlichen Raum, auf die Rolle, die der Alkohol vor allem im Zusammenhang mit Vertragstrunk und Trinkbräuchen auf die lokale Politik und ihre Trägerschaften ausübte, und schließlich auf die noch gering ausgeprägte Tabuisierung der Trunkenheit. Alle diese Faktoren unterscheiden sich noch ganz maßgeblich von dem im 19. Jahrhundert immer komplexer werdenden Umgang mit Alkohol: Tlustys Zeitrahmen ist überwiegend das 16. Jahrhundert, in dem in vielen Detailfragen ein sehr viel liberaleres Verhältnis zu Alkohol erkennbar wird, als es bei den neueren Befunden für das Industriezeitalter der Fall ist.

Wichtigstes Hauptaugenmerk jedoch wird auf die Position des Trinkens in der städtischen Ordnung gerichtet. Hierbei wird deutlich, dass die Unterschiede der Getränke, ihrer Preise, ihrer Konsumenten, ihrer Konsumart und ihrer kulturellen Wertzuschreibung ganz beträchtlich waren. Dieser differenzierte Blick auf einen Teilaspekt der Alltagskultur dient der Autorin dazu, Machtstrukturen aufzuzeigen und auf zum Teil recht statische Grenzen der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft hinzuweisen. Alkohol und sein facettenreiches Kulturumfeld dienen hierbei als wichtige Zeichen dafür, wie die vormoderne Gesellschaft in ihren innersten, fast intimsten Strukturen funktioniert hat: "Mit wem man gemeinsam trank, blieb kaum jemals dem Zufall überlassen, und selbst exzessive Trinkgelage verliefen selten gänzlich ungezügelt und regellos" (256). Kern dieser Zusammenhänge sind laut Tlusty eben jene zahlreichen ungeschriebenen und geschriebenen Regeln des gemeinschaftlichen Trinkens. Ungeschrieben, weil viele von ihnen auf überlieferten Volkstraditionen basierten; geschrieben, da es viel mehr normative und obrigkeitliche Eingriffe in den öffentlichen Alkoholkonsum gegeben hat, als es die bisherige Forschung anhand von kommunalen Steuerlisten oder rechtlichen Verordnungen nachweisen konnte. Hierin liegt der eigentliche Gewinn des Werkes.

Gewalt- und Konfliktpotential, das der übermäßige Genuss von Alkohol naturgemäß birgt, haben ebenso dazu beigetragen, dass er sich in den überlieferten Quellen recht stark niedergeschlagen hat. Auch diese Perspektive gehört zu Tlustys Untersuchung, und sie kommt zu dem Ergebnis, dass Trunkenheit weder vor Gericht als Verteidigungsargument akzeptiert wurde noch als Entschuldigungsgrund für gesellschaftliches Fehlverhalten diente. Dennoch waren Trinker und Betrunkene für die Obrigkeiten nur in den wenigsten Fällen Grund zur Beunruhigung. Strikt ahndeten der Augsburger Rat und seine Funktionsträger zwar den Suff des niederen Volkes, während sie selbst keineswegs abstinent und auch nicht immer vorbildlich lebten - dies jedoch in anderen sozialen Kontexten, mit anderen Mittrinkern und bei anderen gesellschaftlichen Anlässen. Und dennoch bewegte sich das äußerst komplexe Phänomen des Trinkens und der Trunkenheit in einem von allen Beteiligten akzeptierten System. Kontrolle und Machtdemonstration, Repression und Reform sind hierbei die zentralen Merkmale der frühneuzeitlichen Gesellschaft, welche immer wieder neu ausgependelt werden mussten. Der Alkohol diente bei diesem Vorgang als bedeutendes Mittel der Balance zwischen den Sozialschichten, den Kontrolleuren und den Kontrollierten.

Dem Anspruch, mit einer Mikrostudie auch auf überregionale, historisch "große" Verhältnisse schließen zu können, kommt der vorliegende Band an vielen Stellen erfolgreich nach. Ein komparatistischer Ansatz, der Vergleiche zwischen Augsburg und einer vergleichbaren westeuropäischen Stadt in England, Brabant oder Frankreich ziehen könnte, würde wohl dazu beitragen, auch nationale Stereotype von der "deutschen Trunkenheit" von einer neuen Seite her zu beleuchten. Jedoch stehen tiefer gehende und interdisziplinäre Studien zum Alkoholkonsum im europäischen Kontext in weiten Teilen noch aus. Tlustys Werk könnte hierfür ein wichtiger und überzeugender Anlaufpunkt sein und zu weiteren Forschungen anregen. Als Teil der vormodernen Alltagskultur nimmt der Alkohol eine wesentliche Rolle ein. Von daher dürfte der zu besprechende Band jeden überzeugen, der an diesem Tatbestand bisher seine Zweifel hatte. Aufgrund des für die konventionelle Geschichtswissenschaft, die überwiegend eben nicht die alltagshistorische Komponente fokussiert, immer noch ungewöhnlichen (weil kulturalen) Perspektivenspektrums, den das Buch wohltuend und gelungen eröffnet, ist ihm eine breite Leserschaft in der Fachwelt durchaus zu wünschen.

Einzig zu beklagen ist schlussendlich die Tatsache, dass die Autorin keinerlei theoriegeleiteten Diskussionen aufbereitet oder anstößt: Heikle Begriffe wie etwa "Identität" oder "Kultur" erfahren in der Augsburg-Studie keine genaue Definition oder Differenzierung, was mitunter zu einem etwas wankelmütigen Umgang mit diesen zentralen Kategorien führt. Trotz mannigfacher Vorarbeiten der letzten Jahre scheint die historische Alkoholforschung in dieser Hinsicht noch am Anfang einer lebhaften Fachdebatte zu stehen. Die zu rezensierende Studie liefert hierzu keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse oder methodologischen Vorstöße, sondern verhält sich zu den bereits bestehenden Untersuchungen weit gehend komplementär.


Anmerkungen:

[1] Die englischsprachige Originalausgabe: B. Ann Tlusty: Bacchus and Civil Order: The Culture of Drink in Early Modern Germany, Charlottesville u. a. 2001.

[2] Gunther Hirschfelder: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700-1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, Bd. 1: Die Region Manchester; Bd. 2: Die Region Aachen, Köln / Weimar 2003 / 2004.

Bastian Fleermann