Rezension über:

Pamela E. Swett: Neighbors and Enemies. The Culture of Radicalism in Berlin, 1929-1933, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XVI + 337 S., 8 fig., 12 plates, ISBN 978-0-521-83461-2, GBP 55,00
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Rezension von:
Dirk Schumann
Deutsches Historisches Institut, Washington, DC
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Schumann: Rezension von: Pamela E. Swett: Neighbors and Enemies. The Culture of Radicalism in Berlin, 1929-1933, Cambridge: Cambridge University Press 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/06/5224.html


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Pamela E. Swett: Neighbors and Enemies

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Schon wieder ein Buch über die politische Gewalt am Ende der Weimarer Republik und schon wieder über Berlin? Nach den prägnanten Arbeiten von Eve Rosenhaft, Andreas Wirsching und Sven Reichardt, um nur die wichtigsten zu nennen, sollte man meinen, dass es zu diesem Thema kaum noch etwas Neues zu sagen gibt. [1] Doch Pamela Swett stellt zu Beginn ihrer Studie, einer überarbeiteten Dissertation, mit Recht fest, dass die bisherigen Arbeiten den auf der Ebene des Stadtviertels zu verortenden Ursachen des politischen Radikalismus nur unzureichend gerecht geworden sind. Ihr Ansatz rückt die Komplexität nachbarschaftlicher Sozial-, Generations- und Geschlechterbeziehungen ins Zentrum und versucht so, die Fixierung auf nur eine Seite des radikalen politischen Spektrums oder auf die Ebene des Ideologiekonflikts zu vermeiden. Durch die Konzentration der Analyse des politischen Radikalismus auf dessen alltagsgeschichtliche Wurzeln soll Thomas Lindenbergers Studie über die "Straßenpolitik" der Berliner Arbeiter im wilhelminischen Reich [2] gleichsam für die Weimarer Endzeit fortgeschrieben werden. Deren analytische Dichte und Präzision erreicht Swetts Arbeit, das sei schon vorab bemerkt, jedoch nicht.

Absicht der Verfasserin ist es, den Niedergang Weimars aus Berlins "neighborhood-based radical culture" zu erklären, wobei dieser Radikalismus nicht, wie es die Forschung gemeinhin sieht, definiert gewesen sei "by membership in or committment to any political party but by the desire to adress actively the problems of daily life" (7). Die Aktionsformen dieses Radikalismus, so die Kernthese der Studie, hätten darauf abgezielt, überkommene kulturelle Normen und Machtbeziehungen im Stadtviertel zu stabilisieren, hätten aber, und das gilt insbesondere für physische Gewalt, deren Erosion nur beschleunigt und schließlich das Ordnungsangebot des Nationalsozialismus, der endlich wieder stabile Verhältnisse versprach, attraktiv erscheinen lassen.

Swett entfaltet ihre Argumentation in fünf Schritten. Das erste Kapitel der Arbeit beschreibt Topografie und Sozialstruktur des Viertels um die Nostizstraße, einer proletarischen Enklave im bürgerlichen Westen Kreuzbergs. Als mehrheitlich kommunistischer "Kiez", in dem aber weiterhin zahlreiche Sozialdemokraten und auch Nationalsozialisten lebten, gilt das Viertel der Verfasserin als exemplarisches Arbeiterquartier mit ausgeprägtem, in den Krisenjahren seit 1929 jedoch wachsenden Spannungen ausgesetzten Zusammengehörigkeitsgefühl. Es steht deshalb im Mittelpunkt ihrer Studie. Hier entsteht ein sehr anschauliches Bild der Verkehrswege, Plätze, Mietskasernen und Lokale, das die - leider nicht eingelöste - Erwartung weckt, die folgende Argumentation werde die Bezüge zwischen den sozialen und den räumlichen Bedingungen des politischen Radikalismus ins Zentrum stellen und damit das innovative Potenzial des Ansatzes ausschöpfen.

Das zweite Kapitel der Studie widmet sich den Ursachen zunehmender Konflikte im Quartier seit 1929. Die Folge der hohen Arbeitslosigkeit für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war - so die Autorin - eine zunehmende Maskulinisierung der Politik. Diese Beobachtung ist mittlerweile nicht mehr sonderlich neu; instruktiv ist jedoch der Hinweis, dass in kommunistischen Nachbarschaftszeitungen vor allem über weibliche Selbstmorde berichtet wurde, obwohl die männliche Selbstmordrate durchaus höher war, und dass überhaupt in der Presse Frauen als Opfer oder Beteiligte bei politischen Zusammenstößen besondere Erwähnung fanden. Die Diskussion der sich verstärkenden Spannungen zwischen den Generationen, die als zentrale Faktoren Kriegserfahrung, Arbeitslosigkeit und Sozialpolitik anführt, geht über die bisherige Forschung nicht hinaus. Dies gilt ebenso für das dritte Kapitel, in dem die Attraktivität von Kommunisten und Nationalsozialisten mit ihrer Betonung von Männlichkeit und Disziplin der mangelnden Anziehungskraft der Republik und ihrer Symbole in Bezug auf das Reichsbanner, den Roten Frontkämpferbund und die SA gegenübergestellt wird.

Im vierten Kapitel, dem Kernstück der Arbeit, untersucht die Verfasserin Strategien der sozialen Kontrolle im Viertel und ihr Verhältnis zum politischen Radikalismus. Dabei betont sie die mangelnde Fähigkeit der KPD-Führung, Selbsthilfeaktionen in Lebensmittelgeschäften und Mietstreiks zu steuern, und hebt hervor, dass zwischen KPD- und NSDAP-Anhängern vielfältige Kontakte bestanden. Ausführlich erörtert sie Denunziationen bei der Polizei und innerhalb der KPD als Mittel sozialer Disziplinierung von Nachbarn dienten, die etwa wegen Trunkenheit oder sexueller Übergriffe auffällig geworden waren. Dies ist der empirisch gehaltvollste Abschnitt der Studie, doch ob es nach den Zusammenstößen mit der Polizei im "Blutmai" 1929 tatsächlich, wie Swett behauptet, einen deutlichen Rückgang der Anzeigen bei der Polizei zu Gunsten stärkerer Sozialkontrolle im Kiez selbst gab, wird nicht hinreichend belegt.

Das fünfte Kapitel widmet sich den Verlaufsformen und Hintergründen der politischen Gewalt, zunächst den Typen von Zusammenstößen und den von den Beteiligten eingehaltenen Regeln; diese Überlegungen gehen nicht wesentlich über das hinaus, was etwa Richard Bessel und der Rezensent bereits ausgeführt haben. [3] In den Aussagen von Angeklagten, in denen Selbstverteidigung und Hilfe für Freunde als Gewaltursachen dominieren, politische Motive aber ganz in den Hintergrund treten, sieht die Verfasserin eine Bestätigung ihrer These vom primär nachbarschaftsbezogenen Charakter der Gewalt, räumt zugleich jedoch ein, dass Verteidiger eine solche Argumentationsstrategie ausdrücklich empfahlen. Sie schließt sich der Forschungsmeinung an, dass die Gerichte "linke" Gewalttäter härter bestraften als "rechte", hält aber für noch bedeutsamer, dass die Gerichte wie auch die Jugendämter durch ihre Fokussierung auf die äußeren Umstände der Gewalt und die charakterliche "Gesinnung" der Angeklagten anstatt auf die Gewalt selbst diese bis zu einem gewissen Grad legitimierten.

Swetts Arbeit ruht auf einer vielfältigen und breiten Quellenbasis, und sie verleiht dem politischen Radikalismus der späten Weimarer Jahre in Berlin manche neue alltagshistorische Kontur. Ihre Argumentation vermag in entscheidenden Punkten jedoch nicht zu überzeugen. Der weite Radikalismusbegriff erlaubt keine Unterscheidung von Engagement, welches das demokratische System grundsätzlich akzeptierte, und dezidierter Gegnerschaft. Anders als Rosenhaft setzt Swett "proletarisch" zwar nicht mit "kommunistisch" gleich, sie kann dann aber nicht erklären, was die Autonomie des Viertels, das die radikalen Arbeiter insgesamt zu verteidigen suchten, letztlich ausmachte. Dass die Polizei nach 1929 zum Hauptfeind der Kiezbewohner geworden sein soll, bleibt auf Grund der von ihr selbst angeführten widersprüchlichen Quellenaussagen fraglich. Überdies hätte sie auf den Umgang von Anwohnern, Polizei und Gerichten mit "normaler" Kriminalität eingehen müssen, um die These vom Primat nachbarschaftlicher Sozialkontrolle gegenüber staatlicher Intervention umfassend prüfen zu können. Dass es eine rege Fluktuation zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und dadurch eine die Radikalen überwölbende proletarische Identität gab, deutet sie an einigen Stellen an (am deutlichsten auf Seite 270), kann diese Behauptung, die im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung der Forschung steht, aber nicht durch eindeutige Belege untermauern. Die Ableitung des Niedergangs der Weimarer Republik aus den Nachbarschaftskonflikten im proletarischen Berlin ist schließlich eine Engführung, die an den großen politischen Auseinandersetzungen auf Reichsebene und auch an den Entwicklungen außerhalb der Hauptstadt völlig vorbeigeht. So festigt sich am Ende der Lektüre der Eindruck, dass die Bindungen an KPD und NSDAP doch eine weitaus größere Rolle für das Verhalten der radikalen Arbeiter spielten, als die Verfasserin zugestehen will. Ideologien und Parteistrategien rücken in ihrer Argumentation jedoch ganz in den Hintergrund. Nur mit Kopfschütteln kann man zur Kenntnis nehmen, dass sie Andreas Wirschings wichtige Studie zum politischen Radikalismus in Berlin und Paris, die immerhin bereits 1999 publiziert wurde, gänzlich ignoriert. Sven Reichardts Arbeit über Faschistische Kampfbünde in Deutschland und Italien erschien wohl zu spät (2002), um noch berücksichtigt werden zu können. Pamela Swetts Buch vermittelt manche konzeptionelle Anregung zur Geschichte der späten Weimarer Republik, bietet insgesamt aber keine überzeugende Neuinterpretation ihres Niedergangs.


Anmerkungen:

[1] Eve Rosenhaft: Beating the Fascists? The German Communists and Political Violence, 1929-1933, Cambridge/New York 1983; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.

[2] Thomas Lindenberger: Straßenpolitik: zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin, 1900-1914, Bonn 1995.

[3] Richard Bessel: Political violence and the Rise of Nazism: the Storm Troopers in Eastern Germany, 1925-1934, New Haven 1984; Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik, 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001.

Dirk Schumann