Rezension über:

Tanja Blattner: Die erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen 1835 bis 1848. Erfolge und Misserfolge eines der württembergischen Schultradition zuwiderlaufenden Reformvorhabens des Innen- und Kultusministers Johannes von Schlayer. Mit einem Geleitwort von Hans-Ulrich Grunder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 494 S., ISBN 978-3-89971-277-3, EUR 62,00
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Rezension von:
Dirk Mellies
Historisches Institut, Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Mellies: Rezension von: Tanja Blattner: Die erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen 1835 bis 1848. Erfolge und Misserfolge eines der württembergischen Schultradition zuwiderlaufenden Reformvorhabens des Innen- und Kultusministers Johannes von Schlayer. Mit einem Geleitwort von Hans-Ulrich Grunder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/06/10271.html


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Tanja Blattner: Die erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen 1835 bis 1848

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Schulgeschichte ist nicht nur ein Thema der Geschichtswissenschaft, sondern ähnlich wie bei anderen Brückendisziplinen auch die Domäne von Wissenschaftlern, die sich aus der eigenen Disziplin heraus mit der Geschichte ihres Faches beschäftigen. Die Erziehungswissenschaftlerin Tanja Blattner hat sich schon in ihrer Studienzeit für die geschichtliche Entwicklung des württembergischen Realschulwesens interessiert, sodass ihre 2003 an der Tübinger Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften angenommene Dissertation über die "erstrebte Umwandlung württembergischer Lateinschulen in Realschulen" auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen konnte.

In der schulgeschichtlichen Literatur gilt das höhere Schulwesen des Königreichs Württembergs bisher als Sonderfall, da sich hier vom 16. Jahrhundert an eine ungewöhnlich hohe Dichte von kleinen Lateinschulen gebildet hatte, die ein hohes Maß sozialer Aufstiegsmöglichkeiten boten. Während in Preußen die als veraltet angesehenen Winkelschulen bereits Anfang des 19. Jahrhunderts abgelöst wurden, stieg die Zahl der württembergischen Lateinschulen von 1803 bis 1887 sogar noch von ca. 60 auf 68 an. [1] Dieses erscheint umso bemerkenswerter, da unter dem württembergischen Kultusminister Johannes von Schlayer 1835 eine Umwandlung der 43 einklassigen Latein- in praxisnahe Realanstalten geplant gewesen, diese aber am Widerstand der heimischen Bevölkerung gescheitert sei. [2]

Tanja Blattner nimmt die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit dieses staatlichen Reformversuchs zum Anlass, der Diskussion um das Reformvorhaben in den einzelnen Schulgemeinden eine Detailstudie zu widmen. Ziel dieser Studie ist es, zu untersuchen, inwieweit trotz des Scheiterns Impulse zur Modernisierung des württembergischen Schulsystems auszumachen sind. Da ein Teil der Akten des württembergischen Kultusministeriums im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, hat sich Blattner in erster Linie auf die Grundbeschreibungen der 43 einklassigen Lateinschulen der Jahre 1835-1848 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und dem Staatsarchiv Ludwigsburg gestützt. Mehr als 270 Seiten ihrer Studie beschreiben einzelne Schulorte und ihren Umgang mit dem Reformvorhaben von 1835, wobei Blattner betont, dass sie "das historisch-deskriptive Element, [...] um eine historisch-hermeneutische Komponente ergänzt" habe (41). In ihrer empirisch auf 77 Tabellen und Abbildungen gestützten Auswertung kommt die Autorin schließlich zu dem Ergebnis, dass bis 1848 tatsächlich nur neun der 43 einklassigen Lateinschulen in eine Realanstalt umgewandelt wurden und somit auf den ersten Blick das bekannte Bild der Reformresistenz der württembergischen Bevölkerung bestätigt werde (362).

Mit der gleichzeitigen Erfassung der im Schulentwicklungsplan von 1835 nicht vorgesehenen, zusätzlichen Einrichtung von Realschulen neben einer schon bestehenden Lateinschule, hebt Blattner allerdings hervor, dass man durchaus von einem Teilerfolg der Reform sprechen kann. Bis 1848 seien immerhin elf weitere Schulorte mit Realklassen ergänzt (417) und die Dichte höherer Schulen von 89 auf 99 erhöht worden. Diese Stärke des dezentralisierten württembergischen Schulwesens wird auch in der vergleichenden Schulgeschichtsforschung dokumentiert. Während in Preußen durchschnittlich 246 Schüler insgesamt 522 höhere Schulen besuchten, kamen im weitaus kleineren Württemberg durchschnittlich 98 Schüler auf immerhin 165 Schulen. [3]

Eine systematische Aufschlüsselung der gemeindlichen Entscheidungen, den Schulentwicklungsplan anzunehmen, zu modifizieren oder gar abzulehnen, nimmt Blattner nicht vor. Die 43 erfassten Orte zeigten kaum "allumfassende Gemeinsamkeiten" (367). Während etwa in der Gemeinde Altensteigg einige mittlere Beamte die Umwandlung der Lateinschule für eine bessere Ausbildung ihrer Kinder unterstützten (171), lehnten die meisten anderen Orte die Gründung von Realanstalten gerade aus Angst vor einer Bildungsbeschränkung ab. Die örtlichen Meinungsführer fürchteten offensichtlich die zusätzlichen Kosten, die bei einem Wegfall der örtlichen Lateinschule für den Besuch auswärtiger Gymnasien hätten aufgebracht werden müssen. Wenn auch diese finanzielle Begründung nur eine Minderheit der Familien betraf, so scheuten die Gemeinden auch vor den Mehrkosten teurer Realschullehrer zurück. Insbesondere in den katholischen Schulen verhinderte zudem die Verbindung der Lehrerstellen mit kirchlichen Ämtern eine Umwandlung. So wurde keine einzige katholische Latein- bis 1848 von einer Realschule abgelöst, und lediglich in sechs Schulorten wurden zusätzliche Realklassen eingerichtet.

Obwohl Blattner in der Erläuterung ihrer Methode auf die Bedeutung eines hermeneutischen Verfahrens hingewiesen hat, muss konstatiert werden, dass sie weitestgehend deskriptiv vorgeht. Zwar bietet die Autorin etwa zur spannenden Diskussion der Frage, warum eigentlich die Bevölkerung den Realschulen ablehnend gegenüberstand, mehrere verstreut liegende Erklärungen an, allerdings systematisiert sie diese nicht. Auch ist zu kritisieren, dass die rein landesgeschichtlich beschränkte Sichtweise in keinem Fall verlassen wird. So wird das württembergische Reformvorhaben nicht in den Forschungsstand zum Schulwesen außerhalb Württembergs eingeordnet und die entsprechende Forschung auch nicht zur Kenntnis genommen. Dabei ist ja gerade das Ziel einer "Modernisierung von oben" im Politikfeld der Erziehung nicht ungewöhnlich für die Konzepte der "partiellen Modernisierung" (Frank-Michael Kuhlemann) des 19. Jahrhunderts. Mit der Einbeziehung des württembergischen Reformprojekts in den Kontext anderer deutscher Territorien hätten sich sicherlich auch Fragestellungen entwickeln lassen, die über das Ergebnis einer "gebührende[n] Würdigung" (473) des Reformwerks des Ministers Schlayer hinausgegangen wären.

Zuletzt ist noch auf ein Problem der Quellenkritik hinzuweisen. Um ein "anschauliches und unverfälschtes Bild der damaligen Verhältnisse" zu geben, bemüht sich Blattner, möglichst wortgetreu, Originalquellen wiederzugeben (42). Dieses ist zwar zur Darstellung der Schulwirklichkeit des 19. Jahrhunderts sinnvoll. Es wird aber dann zu einem Problem, wenn zur Charakterisierung der Protagonisten überwiegend auf zeitnahe Literatur wie die Allgemeine Deutsche Biografie und das Meyersche Konversationslexikon zurückgegriffen wird. Den Beweis, dass etwa Schlayer tatsächlich durch die Zwiegespräche mit seinem früheren Lehrer seine "große Schlagfertigkeit als Redner" gewonnen hätte (56) und 1839 nur deshalb vom König zum Minister ernannt wurde, da "kaum einer an Schlayers Intelligenz, Fleiß und Kenntnisse anknüpfen konnte" (57), lässt sich in jedem Fall mit Verweisen auf gleich lautende Aussagen biografischer Literatur des 19. Jahrhunderts nicht führen.

Blattners Studie füllt also zusammengefasst eine Lücke in der Geschichte der württembergischen Landes- und speziell der Schulgeschichte. Darüber hinaus bietet die Studie in der Beschreibung der 43 einklassigen Lateinschulen umfangreiches Material nicht nur zur Überprüfung der Frage nach dem Erfolg des Reformvorhabens von 1835, sondern auch zur Schulwirklichkeit des 19. Jahrhunderts. Die vielfältigen Angaben zur Schülerzahl, zu Lehrergehältern und zum schulpolitischen Diskussionsgang in den Gemeinden müssen allerdings noch von einer über die Landesgrenzen hinausblickenden Schulgeschichtsforschung geborgen und systematisiert werden. Für solche Untersuchungen kann die materialreiche Studie von Tanja Blattner allerdings vorzüglich dienen.


Anmerkungen:

[1] Artikel "Württemberg. B: Das höhere Schulwesen", in: Karl Adolph Schmid (Hg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 10, 2. Aufl., Gotha 1887, 523, 564.

[2] Matthias Mayer: Geschichte des württembergischen Realschulwesens, Stuttgart 1923, 49 f.

[3] Detlef K. Müller / Bernd Zymek (Hg.): Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2: Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems in den Staaten des Deutschen Reiches, 1800-1945, Göttingen 1987, 153.

Dirk Mellies