Rezension über:

Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 224 S., ISBN 978-3-525-36280-8, EUR 19,90
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Rezension von:
Manfred Kittel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Kittel: Rezension von: Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/9120.html


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Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft

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Einen Blick von fast schon großkoalitionärer "Anschlussfähigkeit" wirft Klaus Große Kracht in seiner knappen Überblicksdarstellung auf die spektakulärsten Historikerkontroversen in Deutschland seit 1945. Natürlich wird dem mehr oder weniger alten Hasen, der die abundante Spezialliteratur zur Fischer-Kontroverse oder zum Historikerstreit kennt, vieles bekannt vorkommen; doch es gelingt dem stets um ausgewogene Urteile bemühten Autor nicht nur, eine nützliche Einführung in einer für die heutige Studentengeneration verträglichen Portionierung vorzulegen, er bietet obendrein eine in dieser Form neue Studie über die Verzahnung zwischen "zankender" Historikerzunft und politischer Kultur, die den schwierigen Weg der Geschichtswissenschaft zur public science nach der "deutschen Katastrophe" reflektiert.

War es zwischen Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter und dem DDR-Historiker Alexander Abusch in den ersten Nachkriegsjahren nie zu einer echten publizistischen Debatte um die "ganze verpfuschte Geschichte der deutschen Nation" (so Abusch) gekommen, sondern eher zu einer Serie von Monologen, so lag bereits dem Rückzug Ritters aus seiner aktiven Beiratstätigkeit für das 1949 gegründete Institut für Zeitgeschichte ein Medienereignis mit zu Grunde: Im Sommer 1951 war offensichtlich ohne Ritters Kenntnis ein Vorabdruck der von ihm herausgegebenen, aber nicht kritisch kommentierten Aufzeichnungen von Hitlers Tisch-Gesprächen in der Illustrierten Quick erschienen, den nicht nur Hannah Arendt als unfreiwillige "Propaganda für Hitler" empfand.

Der eigentliche Sprung aus den Seminarräumen in die massenmediale Öffentlichkeit gelang der zeitgeschichtlichen Forschung erst im Umfeld des Berliner Historikertages 1964 auf einem Höhepunkt der Fischer-Kontroverse. Dabei hatte Fritz Fischer seine 1961 erschienene Studie über den wilhelminischen "Griff nach der Weltmacht" den Verlagen noch wie saures Bier anbieten müssen; weniger weil das Buch - nach Meinung späterer Kritiker - ein "nicht endendes Aktenrezitativ" war, sondern vor allem weil Fischer die Frage "Handelt es von Hitler?" verneinen musste. Da die Studie mit ihrem Fokus auf die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg letztlich aber doch sehr viel mit Hitler und dem Problem des "deutschen Sonderwegs" zu tun hatte, war ihre mediale Wirkung in einer Anfang der 1960er-Jahre für Themen der "Vergangenheitsbewältigung" besonders offenen Gesellschaft so fulminant. Trotz oder gerade wegen der fast geschlossenen Ablehnung durch die Zunft gewann Fischer die Gunst einflussreicher Meinungsmacher ebenso wie die des jungen studentischen Publikums. Es verehrte Fischer fast wie "eine Art Volkstribun der deutschen Geschichtswissenschaft", vermochte dieser doch "die gesetzten älteren Herren" so schön "zur Weißglut" zu bringen (60 f.). Einer dieser Herren artikulierte seine Einschätzung der von Kameras verfolgten Podiumsdiskussion auf dem Berliner Historikertag in Worten, die das sich jetzt einpendelnde Verhältnis zwischen Fachgelehrten und Öffentlichkeit nachgerade klassisch problematisierten: "Es war schon erschreckend, in Berlin mit anzusehen, wie widerwillig methodische Erwägungen angehört und als unbequem beiseite geschoben wurden." Podiumsdiskussionen, bei denen unter Anleitung eines Schiedsrichters um Punkte gekämpft würde, müssten beim Zuschauer völlig "falsche Vorstellungen vom Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis" wecken: "Er nimmt das Schauspiel für den wissenschaftlichen Prozeß selbst" (62).

Auf die Debatte um Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker im Jahr 1996, die Große Kracht nach Kapiteln über "Achtundsechzig: Geschichte in der Defensive", den Historikerstreit der 1980er-Jahre und "Die überraschte Zunft" in der Zeit der Wiedervereinigung analysiert, ließe sich der Kommentar zur Berliner Podiumsdiskussion mit Fritz Fischer fast eins zu eins übertragen. Nur wirkte zwischenzeitlich die "Sorge, ob in Deutschland die Bereitschaft zur Übernahme historischer Schuld nicht [...] die Fähigkeit zum kritischen Umgang mit zeitgeschichtlicher Literatur übersteige" (140), angesichts der Goldhagen-Euphorie gerade in Teilen der jüngeren Generation noch berechtigter als damals. Goldhagen war bekanntlich keineswegs der erste gewesen, der das Täterprofil des Holocaust untersucht hatte. Allerdings schilderte Christopher Browning in seiner wenige Jahre vorher veröffentlichten Studie über das Reserve-Polizeibataillon 101 die Täter (darunter vierzehn Luxemburger) als - einem sich radikalisierenden sozialen Gruppendruck unterworfene - "ganz normale Männer"; für Goldhagen hingegen, der einen lange vor 1933 entstehenden "eliminatorischen Antisemitismus" in der deutschen Gesellschaft zur Wurzel des Verbrechens erklärte, waren die Täter "ganz normale Deutsche". Und damit bot der amerikanische Politologe der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit - wie deren publizistische Konkurrenten monierten - zehn Jahre nach dem Historikerstreit "endlich mal wieder" die perfekte Gelegenheit, "die gute Gesinnung zur Schau zu stellen".

Als Mitherausgeberin Gräfin Dönhoff selbstkritisch verlauten ließ, ihre Zeitung habe zu viel Aufhebens von dem Buch gemacht, seit Volker Ullrich in einem Leitartikel vom Auftakt zu einem zweiten, "noch schärferen Historikerstreit" gesprochen hatte - da war es auch schon zu spät. Die deutsche Gesamtauflage des von Fachhistorikern wegen seiner Quellenauswahl und seines Umgangs mit der Sekundärliteratur fast unisono abgelehnten Werkes liegt heute bei über 360.000 Exemplaren. "Die Welt ist ungerecht, die Medienwelt allemal" klagte denn auch Eberhard Jäckel. Doch er und andere hatten zur Kenntnis zu nehmen, dass die hergebrachten Publikations- und Rezeptionswege in einer public science über Vorabmeldungen und Presseberichte abgekürzt und "traditionelle Verfahren des wissenschaftlichen Prüfungsprozesses durch die Einschaltung der Massenmedien" (12) unterlaufen wurden.

Die Wahl der Themenschwerpunkte innerhalb des von Große Kracht gewählten methodischen Rahmens leuchtet durchaus ein. Ein wenig bedauerlich ist es nur, dass er nicht auch andere zentrale zeitgeschichtliche Streitfragen zumindest in den weiteren Untersuchungshorizont mit einbezieht, die sich weniger an einzelnen Medienereignissen festmachen lassen, aber ebenfalls von fundamentaler Bedeutung für unsere politische Kultur waren bzw. sind - man denke nur an die lange so strittige Bewertung der "Vergangenheitsbewältigung" in der Ära Adenauer. Eher en passant und nicht ganz widerspruchsfrei teilt uns der Autor hierzu mit, es habe in den 1950er-Jahren "integratives öffentliches Schweigen" in Sachen Nationalsozialismus geherrscht; dennoch wäre es "zu einfach, von einer kollektiven Verdrängung des Nationalsozialismus zu sprechen" (40 f.). Diskutieren ließe sich sicher auch darüber, ob die Akzente in der Darstellung des Historikerstreits immer richtig gesetzt sind und ob nicht die Rolle von Jürgen Habermas - gerade angesichts seiner späteren Laudatio auf Daniel Goldhagen anlässlich einer Preisverleihung durch die Blätter für deutsche und internationale Politik - noch kritischer bewertet werden müsste. Alles in allem aber gelingt es Große Kracht, seinen explosiven Gegenstand auch dort mit der notwendigen Behutsamkeit zu behandeln, wo man ihm im Urteil nicht ganz zu folgen vermag.

Manfred Kittel