Rezension über:

Heinrich August Winkler (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen: Wallstein 2004, 267 S., ISBN 978-3-89244-710-8, EUR 34,00
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Rezension von:
Manfred Kittel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Kittel: Rezension von: Heinrich August Winkler (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen: Wallstein 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/5889.html


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Heinrich August Winkler (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht

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Nicht die altbekannten geschichtspolitischen Themen des Umgangs mit NS-Diktatur und Holocaust präsentiert der Sammelband, sondern er betritt weitgehend erinnerungskulturelles Neuland. Wie Schlüsselereignisse der deutschen Historie rituell inszeniert, mythisch überhöht und geschichtspolitisch instrumentalisiert wurden, untersuchen zehn Essays in verschiedenen Zeiträumen zwischen 1848 und 1974. Dabei geht es um die Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges während der Jahre 1848/49, um die Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon in der Dekade von 1913 bis 1923, um das Erbe der 1848er-Revolution im Bismarck-Reich, in der Weimarer Republik und beim Centenarium 1948, vor allem aber um den langen Schatten der gescheiterten Weimarer Republik und - besonders spannend - um das wechselhafte Gedenken an die kleindeutsche Reichsgründung.

Denn der Streit um den 18. Januar 1871 wurde nach Gründung der - ausgerechnet in Versailles - territorial amputierten und weithin ungeliebten Weimarer Republik rasch zum "Bürgerkrieg der Erinnerungen", wie Vorwärts-Herausgeber Friedrich Stampfer 1931 klagte. So fungierte das Wort Reichsgründung als ideologisch besetzter Kampfbegriff gegen das Weimarer "System", das die äußerste Rechte mit den "Ideen von 1871" für unvereinbar hielt. Robert Gerwarth kann allerdings in seinem Beitrag auch darlegen, wie die Hoffnung, vom Mythos Reichsgründung parteipolitisch zu profitieren, einen "andauernden Erbschaftsstreit" zwischen den Deutschnationalen und der nationalliberalen DVP begründete (119), die beide den Anspruch erhoben, "die Reichsgründungspartei zu sein". Der Versuch der DVP, Bismarck zum geistigen Vater der "nationalen Realpolitik" Gustav Stresemanns zu erklären und so mit der Locarno-Politik auch der Weimarer Republik einen historisch-politischen Legitimationsschub zu geben, war zum Scheitern verurteilt. Und zwar paradoxerweise auch deshalb, weil mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie der großdeutsche Gedanke nach 1918 eine Wiedergeburt erlebte und der kleindeutsche Nationalstaat - bei Anhängern wie Gegnern der Bismarckschen Reichsgründung! - unisono als unvollendet galt. Indem ausgerechnet Linksliberale und Mehrheitssozialdemokraten den Anschlussgedanken am frühesten und nachdrücklichsten propagierten, weckten sie fatalerweise Hoffnungen, die mit ihrem außenpolitischen Instrumentarium nicht zu erfüllen waren. Und als die Regierung Brüning im September 1931 mit dem Projekt einer deutsch-österreichischen Zollunion gescheitert war, konnte Hitler triumphieren: Großdeutsche Einigungspolitik à la Brüning "mit einem Gemengsel von Sozialdemokraten, Zentrümlern, Deutschen Volksparteilern, mit einer Elite aus Pazifisten, Demokraten" führe nie zum Ziel; er allein dagegen, so Hitlers unmissverständliche Botschaft, würde sich als Führer Bismarckschen Formats dessen militärischer Rezepte bedienen und damit endlich die Revision beider Versailles - der kleindeutschen Lösung von 1871 und ihrer Festschreibung im Jahr 1919 - erreichen.

Auf der Folie der Weimarer Bismarck-Bilder gewinnt der "Abschied vom Nationalstaat" in der Geschichtspolitik des geteilten Deutschland, den Sebastian Schubert untersucht, besonders scharfe Konturen. Wenn die - noch ausbaufähige - Quellenbasis nicht trügt, sammelte sich um den 150. Geburtstag des Reichsgründers (1. April 1965) herum eine Koalition von bayerischen Regionalisten und welfischen Traditionalisten, katholischen Konservativen und großdeutschen Nostalgikern, progressiven Sozialdemokraten und kritischen Historikern, um wacker gegen eine Bismarck-Gedenkbriefmarke zu streiten, die im Postministerium ersonnen worden war. Die "lange Dauer" politisch-mentaler Prägungen zeigte sich aber nicht nur bei den "Reichsfeinden" von einst, sondern auch bei den konservativen Protestanten. Nicht zufällig ließ es sich ausgerechnet Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, die evangelische Stimme der CDU, angelegen sein, dem "Hochverehrten Herrn Reichskanzler" in der Welt "in Ehrerbietung und Dankbarkeit" einen Brief gewissermaßen ins Jenseits zu dedizieren: Gerade angesichts der Teilung des Vaterlandes sei Bismarck für die Deutschen "immer noch das mächtigste Beispiel dafür, was in der Politik möglich ist".

Wie sehr der folgende "Machtwechsel" von 1969 auch geschichtspolitischer Art war, demonstrierte bei der nächsten Gedenk-Gelegenheit, dem Centenarium der Reichsgründung 1971, kein geringerer als Bundespräsident Gustav Heinemann. Zum feiern, so meinte der einst aus Protest gegen Adenauers Deutschland- und Sicherheitspolitik von der CDU zur Gesamtdeutschen Volkspartei und dann zur SPD übergewechselte Linksprotestant, bestehe kein Anlass. "Hundert Jahre Deutsches Reich", so verkündete Heinemann - postiert groteskerweise vor Anton von Werners berühmtem Reichsgründungsgemälde - zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr in die Wohnzimmer der Deutschen hinein, hießen "auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945". Obzwar dem "Anti-Bismarck" Heinemann wütender öffentlicher Protest entgegenschlug, nicht zuletzt durch Franz Josef Strauß, der ihm vorwarf, die Vergangenheit zu Gunsten sozialdemokratischer Interessenpolitik zu beugen, zog der Bundespräsident in gewisser Weise nur die geschichtspolitischen Konsequenzen aus der Neuen Ostpolitik, die einen tiefen Einschnitt im Selbstverständnis der Bundesrepublik markierte. Selbst der große Theodor Schieder, der noch auf einer Gedenkfeier des Auswärtigen Amts 1965 Bismarcks politische Schöpfung als "Leitbild und Zielvorstellung unseres Denkens" gerühmt hatte, unterstrich jetzt (1971 beziehungsweise 1974), dass die deutsche Geschichte doch "nur ein knappes dreiviertel Jahrhundert" lang im Zeichen des Nationalstaates gestanden habe, und erklärte die Bundesrepublik zu einer "nach-nationalstaatlichen Nation". Die konservative Lesart der deutschen Geschichte, so kommentiert Herausgeber Heinrich August Winkler die Rede des Bundespräsidenten und ihre Folgen, hatte aufgehört, "offiziös zu sein".

Bei den Beiträgen des Sammelbandes handelt es sich überwiegend um Zwischenergebnisse laufender Dissertationen aus einem Berliner Projekt. Der gewünschte Zweck derartiger Bücher, die Neugier des Lesers auf die fertigen Arbeiten zu wecken, wird in vorliegendem Fall zweifelsohne erfüllt. Man ist ja in einer Zeit manchmal etwas luftiger erinnerungskultureller Diskurse um jede empirische Bodenhaftung dankbar.

Manfred Kittel