Rezension über:

Jürgen Peiffer: Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974. Briefe zur Entwicklung von Psychiatrie und Neurowissenschaften sowie zum Einfluss des politischen Umfeldes auf Wissenschaftler (= Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Nr. 13), Berlin: Springer Verlag 2004, 1196 S., 11 Farb-Abb., ISBN 978-3-540-40690-7, EUR 119,00
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Rezension von:
Cornelius Borck
Canada Research Chair in Philosophy and Language of Medicine, Department of Social Studies of Medicine & Department of Art History and Communication Studies, McGill University, Montreal, QC
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Cornelius Borck: Rezension von: Jürgen Peiffer: Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974. Briefe zur Entwicklung von Psychiatrie und Neurowissenschaften sowie zum Einfluss des politischen Umfeldes auf Wissenschaftler, Berlin: Springer Verlag 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/8982.html


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Jürgen Peiffer: Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974

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"Ihr Lamento über die allmählich in's Maßlose gesteigerte Fülle u. Länge der wissenschaftl. Production ist mir ganz aus der Seele gesprochen; wo soll das noch hinaus? In 10 od. 20 Jahren [...] wird die wissenschaftl. Welt geradezu ersäufen in der Fülle gedruckten Papiers! Man kann das ja auch gar nicht mehr bezahlen. Es ist geradezu schauderhaft" (Wilhelm Erb an Adolf von Strümpell am 11. Juli 1914, Nr. 809).

Was hätte Wilhelm Erb nur gesagt, wenn er das gegenwärtige Ausmaß an neurowissenschaftlichen Publikationen durchzuarbeiten gehabt hätte? Nun hat Jürgen Peiffer dem auch noch einen 1.200 Seiten umfassenden Wälzer mit Briefen deutscher Hirnforscher hinzugefügt, aber statt Erbs Verdikt gebührt ihm dafür großer Dank. So mancher, der in den vergangenen Jahren von Peiffer Fundstücke aus seinem privaten Briefarchiv bekam, mag sich schon damals über die sorgfältige, computergestützte Erfassung und vor allem eine auffallend hohe laufende Nummer gewundert haben. Nun ist dieses Geheimnis gelüftet und der Öffentlichkeit buchstäblich ein Schatz übergeben worden: 2.188 Briefe deutscher Hirnforscher aus den Jahren 1849 bis 1974 erlauben ungewöhnlich vielschichtige Einblicke in die Arbeits-, Lebens- und Denkwelten deutscher Hirnforscher.

Das Buch gliedert sich in fünf Teile. Nach einer kurzen Einleitung in die Genese und Auswahlprinzipien der Briefsammlung gibt Peiffer auf zirka 150 Seiten eine klar und allgemein verständlich geschriebene Übersicht über die Geschichte der Hirnforschung, ihre Arbeitsfelder, Methoden, Leitideen, Institutionen, das Verhältnis zu Nachbardisziplinen und den Einfluss des gesellschaftlichen Kontextes auf die Entwicklung des Fachs, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus. Dieser Abschnitt kann und soll monografische Darstellungen zur Geschichte der Hirnforschung nicht ersetzen, sondern versteht sich vielmehr als einführender Kommentar zu den Briefen. Hierauf folgt eine detaillierte, chronologische Auflistung aller Briefe mit Angaben zu Verfasser, Adressat, Datum, Quelle und einer knappen Zusammenfassung des Inhalts, oft bereits mit prägnanten Zitaten aus dem Original. Im dritten Teil ist eine Auswahl von 277 Briefen vollständig in Transkription abgedruckt, also etwa ein Achtel. Ein vierter Teil liefert knappe biografische Informationen zu sämtlichen in den Briefen genannten Personen, und ein umfangreiches Register erschließt den Band nach Namen, Themen, Briefpartnern, Briefnummern beziehungsweise Seitenzahlen im einführenden Kommentar.

Selbstverständlich kann auch eine Zusammenstellung von über 2.000 Briefen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, schon Peiffers Hinweis auf die allein im Nachlass von Rudolf Virchow erhaltenen 20.000 Briefe verdeutlicht das schlaglichtartig. Nur zum geringen Teil kann dabei auf vorhandene oder im Entstehen begriffene Briefeditionen verwiesen werden. Lediglich zu Autoren aus der allerersten hier erfassten Zeit liegen wissenschaftliche Briefwechsel vor: zu Emil Kraepelin, Karl Jaspers, Ludwig Binswanger und Viktor von Weizsäcker sind sie (hoffentlich!) in Vorbereitung. Damit wird die Frage nach dieser Auswahl und ihren Kriterien für einen repräsentativen Querschnitt zentral. Hier muss an erster Stelle darauf hingewiesen werden, dass Peiffer seine Sammlung nicht systematisch geplant und umgesetzt hat, vielmehr ist das Projekt Recherchen zum Briefwechsel von Ludwig Edinger entwachsen.

Neben dessen Nachlass, dem zirka 450 Briefe entnommen sind, bilden die ebenfalls im Frankfurter Edinger Institut aufbewahrten Briefwechsel von Julius Hallervorden und Hugo Spatz (zusammen mehr als 500 Briefe) sowie die Nachlässe von Ernst Grünthal (127), Wilhelm Erb (122) und Max Nonne (zirka 100 ) die wichtigsten Archive. In der Natur der Sache liegt, dass die Liste der damit erfassten Briefschreiber sehr viel umfangreicher ist: Julius Hallervorden und Hugo Spatz führen die Liste mit 235 beziehungsweise 198 Briefen an, gefolgt von Wilhelm Erb (121), Max Bielschowsky (108), Walter Spielmeyer (85), Ludwig Edinger (61), Oskar Vogt (44), Kurt Schneider (39), Tilly Edinger (38), Richard Jung (36), Wilhelm Waldeyer (36), Eugen Kahn (33), Gustav Retzius (30), Ernst Grünthal (28), Ernst Rüdin (28), Max Nonne (24), Franz Nissl (23), Alfred Hoche (22), Carl Weigert (15), Emil Kraepelin (14), Willibald Scholz (14). Insgesamt dominieren die neurologisch-naturwissenschaftlich orientierten Hirnforscher, neurologische Kliniker und Psychiater kommen deutlich weniger vor. Hinsichtlich der Psychoanalyse reproduziert Peiffer die Haltung, die von den meisten hier dokumentierten Briefschreibern vertreten wird, und schließt sie aus.

Die Aufstellung verdeutlicht schon die Stärken, aber auch Einseitigkeiten dieser Briefsammlung. Sie spiegelt einerseits Peiffers thematische Interessen für morphologische Fragen innerhalb der Hirnforschung und andererseits seine ebenso profunde wie politisch wichtige Beschäftigung mit der Beteiligung deutscher Neuropathologen an den Euthanasie-Aktionen während des Nationalsozialismus. Korbinian Brodman, August Forel und Ludwig Binswanger sind immerhin noch mit je fünf Briefen vertreten, Theodor Meynert, Alois Alzheimer, Otfried Foerster, Alexander Mitscherlich und Kurt Goldstein nur mit je einem Brief, Wilhelm Griesinger, Eugen Bleuler, Konrad Rieger, Richard Semon, Erwin Straus, Paul Spiegel, Karl Bonhoeffer und Karl Kleist zum Beispiel aber nur dank Erwähnungen in den Briefen anderer, um nur einige wenige Namen herauszugreifen. Am bedauerlichsten ist sicher die geringe Berücksichtigung der aus Deutschland vertriebenen Hirnforscher. Hier läuft Peiffers Dokumentation Gefahr, ungewollt noch einmal Ernst Friedrich Müllers bittere Einsicht zu wiederholen, der im April 1934 aus New York an Max Nonne in Hamburg schrieb (Nr. 1411): "Nur eins habe ich hier ganz sicher erwartet vorzufinden, was ich in Deutschland zum größten Teil verloren habe. Nämlich die Treue meiner Freunde."

Dem stehen die großen Verdienste dieser Sammlung gegenüber. Mit ihren knappen, aber aussagekräftigen Übersichten über die vielen erfassten Briefe erlaubt sie einen schnellen Zugriff auf einen ansonsten nicht überschaubaren und weitestgehend überhaupt noch gar nicht archivalisch erfassten Quellenbestand. Die Auswahl der vollständig abgedruckten Briefe umfasst Dokumente vor allem aus dem Edinger Nachlass, wobei einige besonders prägnante Handzeichnungen im Faksimile beigefügt sind. Gerade in der besonderen Berücksichtigung naturwissenschaftlich ausgerichteter Hirnforscher fällt deren intensive Diskussion philosophischer Fragen auf. Martin Heidegger wird in 15 Briefen erwähnt, Karl Jaspers, der ja selbst Psychiater war, in zehn, Edmund Husserl immerhin noch in drei. Der umfangreiche Briefwechsel von Kurt Schneider mit Nicolai Hartmann zum Beispiel ist hier in seinen wesentlichen Teilen abgedruckt. Dies ist ein Verdienst, das nur dazu auffordern kann, die bisher noch völlig unterbelichtete Rolle von Hartmann für die intellektuelle Orientierung der frühen Bundesrepublik aufzuarbeiten. Ohne Zweifel hat Jürgen Peiffer mit seiner Briefsammlung den Nachweis erbracht, welchen unschätzbaren Wert die auch heute vielerorts noch nicht adäquat gesicherten Bestände wissenschaftlicher Briefwechsel darstellen. Seiner Dokumentation ist deshalb nur zu wünschen, dass sie Eugen Kahns nüchterne Einsicht im doppelten Sinn widerlegen wird (Nr. 2108): "Meine Leserschaft [ist] beschränkt (ich meine begrenzt) geblieben."

Cornelius Borck