Rezension über:

Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Band 1: Vom Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts (= Wissen und Kritik; Bd. 24.1), Waltrop: Hartmut Spenner 2002, 2 Bde., 1191 S., ISBN 978-3-933688-76-7, EUR 68,00
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Rezension von:
Stefan Gerber
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Gerber: Rezension von: Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung. Band 1: Vom Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts, Waltrop: Hartmut Spenner 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/9456.html


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Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung

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Hans Schleier gehörte zu den auch in der alten Bundesrepublik rezipierten und, vor allem durch sein materialreiches Buch über die "bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik" [1], ernst genommenen Vertretern der DDR-Geschichtswissenschaft. Das zeigen nicht zuletzt die Vertretungsprofessuren in Bielefeld und Düsseldorf, die der 1931 geborene Historiker nach der Auflösung des Zentralinstituts für Geschichte (bzw. Instituts für deutsche Geschichte) der Akademie der Wissenschaften der DDR erhielt. Schleier hatte sich am Akademieinstitut seit dessen Gründung 1956 mit seinem ausschließlichen wissenschaftlichen Betätigungsfeld, der deutschen Historiografie des "langen 19. Jahrhunderts" und der Weimarer Republik befasst.

Das Kompendium zur "Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung", dessen ersten Band Schleier 2003 in zwei Teilbänden vorgelegt hat, zeigt exemplarisch Vor- und Nachteile dieser in der Geschichtswissenschaft der DDR üblichen Beschränkung auf ein vergleichsweise eng umgrenztes Fachgebiet. Auf weit mehr als 1.000 Seiten präsentiert Schleier einen beeindruckenden Durchgang durch die deutsche und europäische "Kulturgeschichtsschreibung" seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, häuft "Stoff" in einer Breite und Vielfalt auf, wie er wohl nur in vier Jahrzehnten eines auf den Gegenstand konzentrierten Forscherlebens in dieser Breite und Tiefe erfasst und verarbeitet werden kann. Schon das 85 eng bedruckte Seiten umfassende Literaturverzeichnis allein dokumentiert einen Anspruch auf Vollständigkeit und umfassende Darstellung, der sich nur mit dem Begriff des Enzyklopädischen umschreiben lässt.

Der einleitend problematisierten Definitionsvielfalt der Begriffe "Kultur" und "Kulturgeschichte" versucht Schleier durch knappe Gegenstandsbestimmungen zu begegnen. An erster Stelle steht dabei ein weiter Kulturbegriff, dessen Kennzeichnung sich innerhalb der Marken bewegt, die seit Anfang der 1990er-Jahre in der intensiven Diskussion zwischen "Kulturgeschichte" und Historischer Sozialwissenschaft wiederholt gesetzt worden sind: Bewusste wie unbewusste Sinngehalte und Deutungsmuster, ihr Ausdruck wie ihre ständige Erzeugung in den menschlichen "Aktivitäten zur Lebensführung in Gesellschaft und als Individualität" (8) sowie das Feld "kultureller Praxis". Daneben tritt ein 6-Punkte-Katalog dessen, was Schleier zum "Gegenstandsbereich" der Kulturgeschichte rechnet. Er reicht von der "materiellen Kultur" (Technik, Nahrung, Kleidung, Wohnen) über Mentalitäten, Riten, Symbole, Kunst und Erinnerungskultur bis hin zu einer Wissenschaftsgeschichte der Kulturgeschichte. Auch wenn Schleier sich der Auffassung anschließt, die "neue Kulturgeschichte" habe "Schwachstellen der Gesellschaftsgeschichte in ihrer Phase der 1970er Jahre aufgedeckt" (12), legt er - was bei einem Historiker marxistischer Prägung nicht überrascht - Wert auf die bekenntnishaft vorgetragene Feststellung, er halte "den Gesellschaftsbegriff bzw. die Gesellschaftsgeschichte" gegenüber der Chiffre "Kultur" für einen "sinnvolleren" Ausgangspunkt zur Analyse der Vergangenheit in allen ihren Facetten (11, 1092). Diese Positionierung fügt sich nahtlos mit seinem Begriffsinstrumentarium zur Untersuchung der Kulturgeschichtsschreibung zusammen, will Schleier Kulturgeschichte doch vor allem als "Oppositionswissenschaft" (5) sehen, deren "Aufgabe" es gerade in historischen Krisensituationen stets gewesen sei, den Blick der Geschichtswissenschaft auf vernachlässigte oder unterdrückte Untersuchungsbereiche zu lenken.

Fraglich bleibt trotz des abschließenden Urteils, Kulturgeschichte gehöre heute zu den "eigenständigen Fachdisziplinen der Geschichtswissenschaften" (1092), ob Schleier damit, wie auch mit seinen Hinweisen auf die Leistungen von Kulturgeschichte für die Legitimierung und Etablierung neuer, selbstständiger Disziplinen, das Eigenpotenzial und den Deutungsanspruch kulturwissenschaftlicher Zugriffe auf das Ganze der Vergangenheit nicht zu weit hintan setzt. Jürgen Kockas Resümee von 2000, die Historische Sozialwissenschaft habe bereits so viele "kulturgeschichtliche" Anregungen aufgenommen und vertieft, dass die Herausforderung als gemeistert betrachtet werden könne [2], wird ebenso zustimmend referiert, wie Hans-Ulrich Wehlers Kritik an "kulturalistischen Individualisierungsexzessen" und lässt beim Leser die zweifelnde Frage aufkommen, ob es zu Beginn eines umfassenden Werkes zur Geschichte der Kulturgeschichtsschreibung tatsächlich einer so ostentativen Distanzierung des Kulturgeschichts-Historikers Schleier von der Erbin durchaus heterogener kulturgeschichtlicher Ansätze seit 200 Jahren, der "neuen" Kulturgeschichte, bedürfe. Wie dem auch sei, wir haben verstanden: Hans Schleier - die mehrmals explizit formulierte Sorge "missverstanden" zu werden, macht das überdeutlich - möchte trotz seines Untersuchungsgegenstandes nicht für einen "Kulturhistoriker" gelten.

Dieser Eindruck wird schon deshalb kaum aufkommen, weil seine Untersuchung wie seine Darstellung recht traditionell strukturiert sind. Schleier gliedert die Studie in fünf Großkapitel, denen ein Einleitungsteil zu "Aufgaben und Traditionen der Kulturgeschichte" vorangestellt und ein Ausblick angehängt werden. Unter den Großkapiteln führen drei chronologisch und mit Schwerpunkt auf deutschsprachige Autoren durch die Kulturgeschichtsschreibung vom 18. und frühen 19. Jahrhundert über den Vormärz bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwei Kapitel sind eher problemorientiert angelegt: Ein Abschnitt beschäftigt sich mit der Wechselbeziehung von "Modernisierungsprozess" und Kulturgeschichtsschreibung, ein weiterer mit Selbstaussagen deutschsprachiger Kulturhistoriker und wissenschaftlichen Kontroversen um die Kulturgeschichte. Überall geht Schleier von der - stellenweise, z. B. bei Karl Biedermann oder Wilhelm Heinrich Riehl, etwas ausführlich erzählten - Biografie der behandelten Historiker und Schriftsteller aus und entwickelt auf dieser Grundlage äußerst kenntnisreiche und eingehende, z. T. auf archivalischem Material basierende Werkanalysen. Dabei wird eine Vielzahl von bisher wenig oder gar nicht beachteten Vertretern kulturgeschichtlicher Ansätze besonders im 19. Jahrhundert zu Tage gefördert. Gerade in seinen "Parenthesen" (305) und "Exkursen" - kompositorisch die Konsequenz des Strebens nach möglichst vollständiger Darstellung - bietet Schleier oftmals Interessantes, so z. B. in der knappen Zusammenschau der sehr unterschiedlichen katholischen "Kulturhistoriker" Johannes Nikel, Johannes Janssen und Ernst Michael (981-997).

Folge des enzyklopädischen Strebens nach Vollständigkeit ist es aber auch, dass die Deutung einzelner Werke hinter den Möglichkeiten eingehender kritischer Betrachtung zurückbleibt und tradierte Urteile weiter transportiert. Ein Beispiel dafür ist die Untersuchung der "Fragmente zur Culturgeschichte" des vormärzlichen Publizisten und Oppositionellen Johann Georg August Wirth (305). Schleier folgt hier der verbreiteten Verfahrensweise älterer Biografik, "problematische" Äußerungen eines Protagonisten aus lebensgeschichtlichen Ausnahmesituationen, hier der für Wirth "so unruhigen Zeit" seiner Haft, zu erklären und damit zu entschärfen. Zwar registriert Schleier Wirths Behauptung von einer Überlegenheit der europäischen Rasse und seine, auch in der "Geschichte der Deutschen" herausgestrichene, Präferenz für das Germanentum, macht aber weder die Verknüpfung von Wirths anthropologischen Vorstellungen mit kruden naturwissenschaftlichen Theorien noch Wirkungszusammenhang und Umfeld seiner "die Neger" auf der untersten Wertigkeitsstufe ansiedelnden Rassentheorie ausreichend klar. [3] Wirth wird bescheinigt, die "stärkere politisch-ideologische Wirkung" seiner historischen Publizistik habe trotz solcher Ideen in der "bürgerlich-liberalen Geschichtsbetrachtung" gelegen, "die Parlamentarismus und Nationalstaat als notwendigen Fortschritt" postulierte.

Die erzählende, von Person zu Person, Problem zu Problem bisweilen assoziativ fortschreitende Darstellungsform ist, trotz der guten Lesbarkeit der Texte, für die Vermittlung der enzyklopädisch breiten Informationsmasse, die Hans Schleier aus seinem souveränen Überblick über den vielgestaltigen Stoff vermitteln will, sehr ungünstig. Dem Leser, der eben jene detaillierte Kenntnis der Zusammenhänge nicht besitzt, fällt es bei aller Faszination angesichts der Fülle des Gebotenen schwer, Zusammenhänge herzustellen. Als "Nachschlagewerk", das schnellen Zugriff auf Personen und Hauptthemen bietet, kann er die Bände aber ebenfalls nicht benutzen. Zu diesen Rezeptionsschwierigkeiten trägt auch die Zurückhaltung Schleiers gegenüber Querverweisen und einer Einordnung seiner Protagonisten in ein Beziehungsgeflecht bei. Einzelne Werkanalysen mit biografischem Hintergrund stehen besonders in den chronologischen Teilen bisweilen zwar geordnet, aber doch etwas isoliert nebeneinander.

Dieser kritischen Anmerkungen ungeachtet liegt mit Schleiers "Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung" bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine beeindruckende Forschungs- und Darstellungsleistung vor, der zurzeit nichts Vergleichbares zur Seite steht.


Anmerkungen:

[1] Hans Schleier: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975.

[2] Vgl. Jürgen Kocka: Historische Sozialwissenschaft heute, in: Paul Nolte u. a. (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, 5-24.

[3] Vgl. dazu Elisabeth Hüls: Johann Georg August Wirth (1789-1848). Ein politisches Leben im Vormärz (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; 139) Düsseldorf 2004, 359-381.

Stefan Gerber