Rezension über:

Christoph Weischer: Das Unternehmen "Empirische Sozialforschung". Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 14), München: Oldenbourg 2004, IX + 508 S., ISBN 978-3-486-56814-1, EUR 74,80
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Rezension von:
Anja Kruke
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Anja Kruke: Rezension von: Christoph Weischer: Das Unternehmen "Empirische Sozialforschung". Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/6922.html


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Christoph Weischer: Das Unternehmen "Empirische Sozialforschung"

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Mit dieser Habilitation liegt die erste historische Studie zur Geschichte der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik vor. Die Soziologie war eines der ersten Fächer, in denen eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte während des Nationalsozialismus stattfand. In der vorliegenden Studie wird nun eine Historisierung der neuesten Zeitgeschichte der empirischen Sozialforschung unternommen. Allerdings liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der "Gründungsphase" der empirischen Sozialforschung, die nahezu die Hälfte der Studie ausmacht. Dies dürfte nicht allein der Zugänglichkeit der Quellen geschuldet sein, die sich in dieser Arbeit ausschließlich aus veröffentlichtem Material zusammensetzen, sondern auch der zugeschriebenen Bedeutung der ersten Phase, in der die Weichen der zukünftigen Entwicklung gestellt und das Repertoire der Selbstverständigung entwickelt wurden.

Das Erkenntnisinteresse Weischers an der empirischen Sozialforschung verknüpft sich mit der Vorstellung, dass mit "Schulen" oder Theorien keine Geschichte eines Faches hinreichend darzustellen ist. In Anschluss an Bourdieu definiert er Soziologie als ein wissenschaftliches Feld, auf dem sich die empirische Sozialforschung bewegte - oder genauer gesagt, auf der sich Personen und Institutionen als Akteure in einer spezifischen Konstellation bewegten, in denen sie bestimmte Orientierungen, ein spezifisches Selbstverständnis sowie charakteristische Methoden und Praktiken entwickelten, mit denen sie in den jeweiligen Verwendungskontexten operierten und gegenüber der Gesellschaft auftraten. Weischer verwendet dabei statt des Theorems des "Denkstils" den abgeschwächten Begriff des "Leitbilds", um das Selbstverständnis der Sozialforscher zu kennzeichnen, das sie von sich als Wissenschaftler in der Gesellschaft entwickelten.

Gemäß der Bourdieu'schen Theorie konnten die Akteure dabei ihre Forschung wie auch ihr Selbstverständnis als Kapitalien in dem Versuch der Positionierung, gesellschaftlich oder auf Stellen bezogen, einsetzen. Gemeint ist: Der wissenschaftliche Diskurs und die Positionierung auf dem wissenschaftlichen Feld mittels Leitbildern hatten nicht unbedingt etwas miteinander zu tun, sondern letzteres war eher Gegenstand strategischen Einsatzes im Kampf um Positionierungen und letztlich auch Stellen. Weischer analysiert eben diese Unterscheidungen und unterschiedlichen Aspekte im Rahmen einer klaren Gliederung: gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Institutionen, Methoden/-diskurse, Produktionsbedingungen, Verwendungskontexte, Leitbilder. Weischers Beschreibungen gewinnen insbesondere dadurch an Präzision, dass ein Faktor nie allein für sich steht, sondern immer zu den anderen Faktoren in Beziehung gesetzt und kontextualisiert wird. Schaut man sich die Vielfalt der Institutionen, Verwendungsfelder und Praktiken an, scheint der Umfang der Studie, die sehr dicht geschrieben ist, gerechtfertigt.

Die Untersuchung erfüllt den Anspruch, die intellektuellen Entwicklungen des Faches vor einer je spezifischen historischen Konstellation zu analysieren. Jedoch ist ihre Stärke, die "Unternehmung" zu kennzeichnen, gleichzeitig ihre größte Schwäche: So wird der intellektuelle Horizont der Sozialforschung abgebildet und analysiert, den Diskursen über die empirische Sozialforschung in der Gesellschaft bleibt allerdings wenig Raum. Sie werden immer wieder für die einzelnen Phasen angesprochen, jedoch finden sie sich zumeist nur in gebrochener Darstellung ein, gespiegelt in der Selbstwahrnehmung der Akteure. Zugegebenermaßen geht es Weischer um die Welt der Akteure, eben die "Unternehmung". Unternehmung ist dabei eine weniger an bewussten Handlungsoptionen ausgerichtete Beschreibung zu verstehen, als ein Begriff wie "Projekt" es wäre und daher passend für die Gesamtbeschreibung gewählt, auch wenn manchmal die Begriffe im Text synonyme Verwendung finden - schließlich wurde die empirische Sozialforschung von Teilen der Fachvertreter als Projekt betrieben.

Weischer unterteilt die Entwicklung in drei Phasen, deren Periodisierung er mit den Wendepunkten 1965 und 1980 relativ umstandslos vornimmt, indem er "Mittelwerte" aus Entwicklungstendenzen und Einschnitten bildet (35-37, 236, 376). Mit diesen Phasen beschreibt er entlang des klassischen Erzählmusters 'Aufstieg, Erfolg und Fall' die Entwicklung seines Untersuchungsgegenstands vor dem Hintergrund, dass mit der Einführung der Befragung als zentraler Methode der empirischen Sozialwissenschaft sich auch die Soziologie als übergeordnete Bezugsdisziplin sowie angrenzender Arbeitsfelder wie Statistik und Teile der Wirtschaftswissenschaften einschneidend veränderten, da sie bestimmte Monopolstellungen der amtlichen Statistik für sozial ordnende Daten oder spezifische Sichtweisen der Ökonomie auf den Kunden zu Fall brachte. Die Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Wählerschaft durch Parteien werden nicht thematisiert, abgesehen von der Rolle der Methoden der empirischen Sozialforschung für die Begründung der "Wahlforschung" als eigener Subdisziplin.

In der Phasenbeschreibung folgt Weischer weitgehend den Selbstbeschreibungen der Sozialforschung, wenn er von der zweiten Phase als "'Großer Zeit'" und der dritten Phase als "Normalbetrieb" spricht. Ausgehend von der Situation nach 1945, beschreibt er zunächst die Ausgangsbasis und -diskussionen um die Sozialwissenschaften als eigenes Fach sowie die Rolle der amerikanischen Sozialwissenschaften. Hierbei ist es ihm im ersten Teil der Untersuchung noch möglich, einzelne Institute und Akteure vorzustellen, bevor er in den folgenden Phasen der Expansion Tribut zollen und sich mit der Beschreibung ganzer Bereiche auf die Meso-Ebene zurückziehen muss. Der erste Teil gerät sehr ausführlich. Um mit Foucault zu sprechen, vollzieht sich eine "Diskursformation", in der sich eben ein eigenes Selbstverständnis etc. als Fach herausbildet. Dessen Repertoire wird mit Blick auf Ressourcen, Produktionsbedingungen, Leitbilder und Methoden in dieser Zeit gesetzt. Alle späteren Verschiebungen beziehen sich auf dieses gesetzte Repertoire, sodass in den folgenden Teilen eben die Veränderungen oder Verschiebungen des Diskurses beschrieben und analysiert werden.

Im dritten Teil verliert die Struktur der Untersuchung ein wenig an Kontur. So werden die Leitbilder in den verschiedenen Praktiken lediglich erwähnt, wobei es durchaus auch sinnvoll hätte sein können, sich eben mit der Ent- bzw. Abwicklung der Leitbilder in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu beschäftigen und genauer zu untersuchen, was an deren Stelle tritt. Dies führt zu kleineren Widersprüchen, wenn einmal davon die Rede ist, dass die Leitbilder beibehalten werden, aber verblassen, und andererseits von neuen Leitbildern die Rede ist (394, 432). Außerdem fließt nun doch der Diskurs über die empirische Sozialforschung aus dem Feuilleton in die Analyse ein, wenn die sich entwickelnde Krisensemantik und deren Verpuffen in der Sozialwissenschaft als Zeichen des "Normalbetriebs" analysiert werden.

Abgesehen von den benannten kleineren Monita ist die Studie Christoph Weischers eine gelungene, dicht geschriebene Übersicht über das Unternehmen empirische Sozialforschung und allen zu empfehlen, die sich einen profunden Überblick über die Geschichte der empirischen Sozialforschung verschaffen möchten.

Anja Kruke