Rezension über:

Regina E.G. Schymiczek: Über deine Mauern Jerusalem, habe ich Wächter bestellt ... Zur Entwicklung der Wasserspeierformen am Kölner Dom (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte; Bd. 402), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 264 S., ISBN 978-3-631-52060-4, EUR 45,50
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Rezension von:
Heiko Brandl
Institut für Kunstgeschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Heiko Brandl: Rezension von: Regina E.G. Schymiczek: Über deine Mauern Jerusalem, habe ich Wächter bestellt ... Zur Entwicklung der Wasserspeierformen am Kölner Dom, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/6792.html


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Regina E.G. Schymiczek: Über deine Mauern Jerusalem, habe ich Wächter bestellt ...

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Der prosaische Titel, entlehnt einem Spruch des Propheten Jesaja (Jes 62,6), kündigt die Ausrichtung der Studie an. Freilich sind in der Bibel nicht Wasserspeier gemeint, vielmehr werden Engel als himmlische Schutzkräfte über Jerusalem berufen. Diesem Widerspruch setzt die Verfasserin ihre Sichtweise von der gotischen Kathedrale als Abbild des Himmlischen Jerusalems entgegen. Um es vorweg zu nehmen: Schymiczek interpretiert Wasserspeier als Darstellungen von Luftdämonen, deren Anbringung in luftiger Höhe des Kirchenbaus apotropäische Funktion im Sinne von 'Wächtern' erfüllen sollte.

Am Beispiel des Kölner Domes mit einem Bestand von nicht weniger als 108 Wasserspeiern, die in einem Zeitraum von 800 Jahren entstanden, wird die kunstgeschichtliche Entwicklung der Wasserspeierformen vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart exemplarisch aufgezeigt. Dazu sollen die Werke stilistisch und ikonografisch erfasst und unter Berücksichtigung des historischen Kontextes auch Fragen nach den Motiven ihrer Anbringung, ihrer Rezeption und ihrer Funktion im Gesamtkonzept der Kathedrale nachgegangen werden. Schymiczek will zu weiteren Studien anregen, denn noch immer ist die kunstgeschichtliche Erforschung von Wasserspeierfiguren ein Desiderat.

Die Aufgabe eines Wasserspeiers besteht darin, das auf den Dächern in Rinnen gesammelte Regen- und Schmelzwasser vom Mauerwerk abzuleiten. Die weit aus der Wand herausragende Figur ist Teil eines größeren Blockes, der als Gegengewicht im Mauerwerk verankert wurde. Im Rücken der Speier befindet sich meist eine Rinne, die häufig als Bleirohr aus den Mäulern der Wesen mündet. Mit diesem funktionalen Aspekt waren die Platzierung am Bauwerk und teilweise auch die Form vorgegeben. Eine Begründung für figürliche Ausformung und Motivwahl erschließt sich daraus freilich nicht. Mit welcher Berechtigung brachte man solche Skulpturen am christlichen Kirchenbau an? War ihnen ein bestimmter Stellenwert innerhalb des mittelalterlichen Weltbildes zugedacht? Gibt es eine erkennbare Programmatik? Diesen spannenden Fragen will Schymiczek nachgehen, kritisch verschiedene Lösungsansätze analysieren und damit zur Entschlüsselung der Bedeutung beitragen (17).

Am Forschungsstand zeigt die Verfasserin auf, dass außer der Studie von Maximilian Steiner [1], welche sich als religionsgeschichtlich-ethnologischer Deutungsversuch verstand, keine kunsthistorische Dissertation zum Thema vorliegt. Zwar finden sich in allgemeinen Werken zur marginalen Kunst des Mittelalters Beiträge, doch werden die Wasserspeier darin zumeist als 'inoffizielle' Kunst oder als 'Randerscheinung' mittelalterlicher Bauskulptur behandelt. Selten sind monografische Untersuchungen zu Einzelbauten, wie jene von Heike Köster [2], die, als Bildband angelegt, einen kurzen Überblick über die verschiedenen Deutungsmodelle gibt, ohne wissenschaftlich in die Tiefe zu gehen (18 f.).

Um den Leser auf die komplexen Deutungsmöglichkeiten einzustimmen, sind Exkurse zu Rang und Wandlung des Tieres als religiöser Bedeutungsträger, zu Ursprung und Ausnahmen des jüdischen Bilderverbotes, zu dessen Umgang und Abschaffung im Christentum und zum Verständnis der Kathedrale als Abbild des Himmlischen Jerusalems vorangestellt (23-35).

Den Hauptteil bildet ein Katalog, der die Wasserspeier des Kölner Domes in den für den Bau relevanten Epochen vorstellt, analysiert und dokumentiert. Bereits in diesem Teil sind die Objekte in Tier-, Fabelwesen und menschliche Speierformen unterteilt, denen weitere Untergruppen folgen. Dadurch war es Schymiczek möglich, das umfangreiche und heterogene Material in übersichtlichen Komplexen darzustellen. Nahezu alle behandelten Objekte sind durch Abbildungen dokumentiert, eine bemerkenswerte Leistung angesichts der großen Anzahl und gewiss häufig ungünstigen Aufnahmebedingungen. Leider lässt die Qualität der kleinen Bilder oft zu wünschen übrig und manches im Text beschriebene, interessante Detail hätte man auch gern gesehen. Da im Mittelalter die Grundlagen der Wasserspeierformen gelegt wurden, ist dieser Epoche der umfangreichste Abschnitt gewidmet (35-125). Die nachfolgenden Zeitalter sind mit sinnreichen Begriffen überschrieben, 'Sehnsucht nach dem Mittelalter' steht für das 19. Jahrhundert (129-178), 'Experimente und tradierte Motive' bediente man im 20. Jahrhundert (179-221) und das 21. Jahrhundert unterliegt 'Tradition und Progression' (222-226). Der Anhang liefert wichtige Hilfsmittel zur Orientierung: eine tabellarische Chronologie aller Wasserspeier des Kölner Domes und einen Grundriss zu den am Bau befindlichen Wasserspeiern bei farblicher Kennzeichnung ihrer Entstehungszeiten. Dadurch können die im Katalog behandelten Objekte relativ rasch lokalisiert und zugeordnet werden.

Schymiczeks Erkenntnisse zum Mittelalter sollen eingehender gewürdigt werden. Der Katalog umfasst auch jene Stücke, die im 19./20. Jahrhundert nach Originalen geschaffen wurden, was methodisch fraglich bleibt. Auf eine Doppelung der Beiträge zu Objekten, die in Original und Kopie vorhanden sind, hätte verzichtet werden können. Da die Literatur nur für wenige Wasserspeiermotive Begrifflichkeiten vorgab, musste die Autorin zur Differenzierung eigene Termini entwickeln, die zwar meist treffend sind, aber das disparate Material noch weiter aufspalten.

Ihre Datierungsansätze begründet die Verfasserin mit der bestehenden Bauchronologie des Kölner Domes. Die frühesten Wasserspeier, Werke mit sehr naturalistischer Gestaltung, werden in eine erste Bauphase mit Fertigstellung von Johannes- und Dreikönigskapelle um 1258-1261 datiert (109 f.). Der wichtige Hinweis, dass ein Vergleich mit Wasserspeiern der französischen Kathedralen nicht möglich sei, da dort Untersuchungen und eindeutige Datierungen nicht vorliegen, findet sich in Anmerkung 108.

Jeder Wasserspeier ist ein Unikat. Eine formale Gemeinsamkeit besteht in der typischen Hockstellung der Figuren, die sich am Mauerwerk mit den Hinterläufen/-beinen abzustützen bzw. abzustoßen scheinen. Die Auswertung der Motive ergab eine eindeutige Präferenz bestimmter Tiergattungen, Hunde und Wölfe sind am häufigsten vertreten. In der Kategorie Fabelwesen dominieren Drachen. Erst im Abschnitt zu menschlichen Speierformen wird mitgeteilt, dass am Kölner Dom 27 mittelalterliche Wasserspeier noch vorhanden oder durch Fotographien belegt sind (93). Offenbar meint Schymiczek damit die um 1260 geschaffenen Stücke, von denen der Katalog bereits 28 Objekte ausweist.

Einige besonders eindrucksvolle Stücke seien hier genannt: Der 'Hockende Satan' (um 1260) greift mit der rechten Hand nach hinten zum Bein eines kleinen nackten Menschen, der über seinen Rücken zu fliehen sucht. Knie, Ellenbogen und Brust der Figur sind mit zusätzlichen Köpfen versehen. Schymiczek leitet diese 'Gelenkgesichter' überzeugend von Rüstungen her, deren Gelenkteile ebenfalls apotropäische Masken zieren (79). Singulär steht der 'Schildträger' (um 1260), eine frontal ausgerichtete, männliche Figur mit Kalottenfrisur und Löckchenkranz, die sich mit der Linken auf einen Schild mit Lilienhaspel stützt (96). Ob mit der Gestalt tatsächlich auf die Kämpfe zwischen Erzbischof und Bürgerschaft hingewiesen werden sollte, sei dahingestellt. Der tierartige Unterleib weist in die Gattung Fabelwesen. Der 'Lorbeerträger' (um 1260) besitzt einen klassisch anmutenden Charakterkopf, geschmückt mit hohem Lorbeerkranz. Eine Anspielung auf die römische Vergangenheit Kölns ist vorstellbar, ebenso wichtig erscheint der Hinweis, dass die Verwendung des Motivs an einem Wasserspeier eine 'Entheiligung' der Kaiserwürde bedeutete (98). Die 'Hexe' (um 1260), als einzige weibliche Figur, wird ebenfalls mit der antiken Vergangenheit Kölns in Verbindung gebracht. Ungemein dynamisch wirken die Bewegungen. Die Figur streckt sich nach hinten, zugleich wird die rechte Hand flach zur Stirn geführt - wohl als Ausdruck des Schmerzes -, während die linke ihre entblößte Brust umgreift. Das Brustweisen verbildlicht einen Abwehrgestus. Unterhalb der Hüftzone entwickelt sich der menschliche Körper zu einem Fabelwesen mit Vogelkrallen. Vor dem Unterleib erscheint eine nackte menschliche Figur, die sich über einen Hund beugt. Wie schon beim Hockenden Satan verkörpert die kleine Figur eine fliehende Seele. Selbst wenn für die 'Hexe' kein adäquates Vergleichstück nachzuweisen war, so gibt es doch andernorts ähnliche Darstellungen weiblicher Wasserspeier, daher bleibt Schymiczeks Deutung als orientalische Göttin Hekate vakant (107). Überzeugend ist dagegen die Auffassung, dass 'Bartweiser' (94) und 'Halsgreifer' (103) einen Würgegestus verbildlichen sollten, wie er der Funktion eines Speiers sinnfällig entspricht. Dämonenabwehr durch Speien und gesteigertes Interesse an emotionalem Ausdruck trafen zusammen.

Der Umstand, dass sich am Kölner Dom, wie auch an allen anderen gotischen Kathedralen, keine Wassertiere unter den mittelalterlichen Wasserspeiern befinden, stützte die These von Maximilian Steiner, dass Wasserspeier in erster Linie 'luftfahrende' Wetterdämonen darstellen sollten. Die für Donner, Blitz und Unwetter verantwortlich gemachten Dämonen konnten in vielerlei Gestalt auftreten, besonders häufig wurden sie als Tiere dargestellt. Die Vorstellung, dass Bild und Spiegelbild sich in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben, existierte in vielen Kulturen und galt als wirksame Maßnahme der Dämonenabwehr. Kein Dämon ertrug es, sein schreckliches Ebenbild anzusehen - dies zwang ihn zur sofortigen Umkehr (116 f.). Die Traufleiste als jener Bereich, wo Mauerwerk und Dach aufeinander treffen, galt als besonders gefährdeter Bereich für das Eindringen von Dämonen, die eines besonderen Schutzes bedurfte (122). Und in diesem Bereich kamen die dämonengestaltigen Wasserspeier zum Einsatz.

Durch Einleitungen und beschreibende Analysen, die in abschließende Betrachtungen münden, gelingt es Schymiczek, das im Katalog präsentierte, gewichtige Material zu ordnen, Schwerpunkte zu setzen, Besonderheiten hervorzuheben und somit dem Leser anschaulich die Entwicklung der Wasserspeierformen des Kölner Domes vom Mittelalter bis zur Gegenwart nachzuzeichnen. In dieser mit wertvollen Detailbeobachtungen gespickten Gesamtschau liegt der besondere Wert dieser Arbeit.

Die Schlussbetrachtung enthält weit mehr als nur eine Zusammenfassung der Einzelkapitel, die Entwicklungsgeschichte der Wasserspeier wird deutlicher als in den vorausgehenden Kapitel in gesamtgesellschaftliche Veränderungen eingebettet, damit werden die in Köln gewonnenen Einsichten zu allgemein gültigen Aussagen geführt. Hatte die Verfasserin ihre Interpretation der Wasserspeierfiguren im Text bereits formuliert, so findet jetzt eine intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Deutungsmodellen statt. Dass sich Schymiczeks Sichtweise letztlich der These von Maximilian Steiner annähert, mindert die Leistung der Arbeit keineswegs. So überzeugend die Interpretation vorgetragen wird, so bleiben doch Fragen. Denn Darstellungen von Dämonen und Fabelwesen beschränken sich eben nicht nur auf Wasserspeier, sie sind in anderen Bereichen und auch im Inneren der Kirchen anzutreffen. Dass derartige Plastiken vorwiegend, so hat es den Anschein, an Grenzzonen wie Fußböden und Kapitellen auftreten, ist eine gesonderte Überlegung wert, die nicht allein mit einer Hierarchie innerhalb des Bauwerkes begründet werden kann.


Anmerkungen:

[1] Maximilian Steiner: Wasserspeier an gotischen Kirchengebäuden als Bestandteil des mittelalterlichen Dämonenglaubens, Diss. masch., Erlangen 1953.

[2] Heike Köster: Wasserspeier am Freiburger Münster, 1997.

Heiko Brandl