Rezension über:

Sally C. Humphreys: The Strangeness of Gods. Historical Perspectives on the Interpretation of Athenian Religion, Oxford: Oxford University Press 2004, 399 S., ISBN 978-0-19-926923-5, GBP 55,00
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Rezension von:
Bernhard Smarczyk
Institut für Altertumskunde, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Smarczyk: Rezension von: Sally C. Humphreys: The Strangeness of Gods. Historical Perspectives on the Interpretation of Athenian Religion, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/6759.html


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Sally C. Humphreys: The Strangeness of Gods

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Die modernen Betrachtungsweisen griechischer Religion und ihre Wandlungen sowie die Veränderungen des Rituals im Rahmen der athenischen Kultpraxis sind die beiden Schwerpunkte des neuen Buches von Sally C. Humphreys. Es vereinigt vier bereits anderenorts veröffentlichte Aufsätze, die zwischen 1985 und 2002 erschienen sind und teilweise durch Beifügung eines afterword ergänzt wurden, mit zwei neuen Beiträgen über die Religion in den attischen Demen bzw. über die Anthesterien in Athen. Sie sind durchgehend bestimmt von einem ausgeprägten Interesse der Autorin an wissenschaftshistorischen, theoretischen und anthropologischen Aspekten der Interpretation griechischer Religion.

In "Classics and Colonialism: towards an erotics of the discipline" (8-50) erörtert Humphreys die Verknüpfungen, die zwischen der Institutionalisierung der klassischen Studien als wissenschaftliche Disziplin und der Entwicklung des Kolonialismus bestanden. Die Antike wurde in diesem Kontext als historische Epoche gesehen, die fortschrittliche Errungenschaften der aufgeklärten Moderne vorweggenommen hatte. Hierbei tritt jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Betrachter der Antike, der sich seine Sichtweise der Vergangenheit unter dem Einfluss kulturell vorgeprägter Kategorien und Unterstellungen konstruiert, und dieser Vergangenheit selbst zu Tage. Humphreys Überlegungen führen zu der Forderung, in einen interaktiven und durchaus auch spielerischen Dialog mit den antiken Texten einzutreten, der ihre komplexen Entstehungszusammenhänge in "fremden" Gesellschaften berücksichtigt. Daher plädiert sie für eine kritische Auseinandersetzung mit den Implikationen der in der Forschung angewandten heuristischen Prinzipien und eine höhere Transparenz des Prozesses der Reflexion über die modernen (westlichen) Vorwegannahmen, was 'Religion' ausmacht.

"Dynamics of the Greek 'Breakthrough': the dialogue between philosophy and religion" (51-76) untersucht den Einfluss der Tendenz zur Säkularisierung und Rationalisierung, die sich seit Mitte des 6. Jahrhunderts in der griechischen Kultur und nicht zuletzt in der Politik bemerkbar machte, auf die Religion. Sie führte u. a. zu einer Rationalisierung der Göttermythen, die von allzu mirakulösen Zügen befreit wurden, und des Staatskultes, für den die Feier großer Ereignisse der Vergangenheit und die Bitte um zukünftigen Segen der Götter stärker in den Vordergrund trat (66). Zugleich ist jedoch die dialogische Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft bzw. Philosophie und die wechselseitige "Konturierung" der griechischen Konzeptionen von 'rational' und 'irrational' hervorzuheben (75).

"Lycurgus of Boutadai: an Athenian aristocrat" (77-129) deutet den konservativen Politiker als Reformer und Innovator auf religiös-kultischem Gebiet, der trotz seiner Bindung an die demokratische Tradition Athens aber bereits auf die attische Aristokratie der hellenistischen Epoche vorauswies. Von Lykurg und seinen Mitarbeitern, die im Übrigen kein festes Programm verfolgten, wurde allerdings kein rückwärts gewandter Traditionalismus gepflegt. Ihre Maßnahmen knüpften an Athens großes Zeitalter in den Tagen des Perikles an, setzten die Schwerpunkte aber nicht auf der Akropolis oder der Agora, sondern vielmehr bei Kultzentren außerhalb der Stadt. Die in Lykurgs Zeit vorgenommenen Veränderungen von Riten und Kulten stellen sich als Rationalisierungen und kreative Neuinterpretationen dar, die wichtig wurden für eine Stärkung des athenischen Patriotismus und insbesondere für das Erziehungsprogramm der Epheben, das sie auf ihre Aufgaben im "bürgerlichen" Leben Athens vorbereiten sollte. Athen selbst wurde zugleich vorbereitet auf seine Rolle als Repräsentation der idealen Polis und als Vorbild für die paideia tes Hellados, die seine Sonderstellung in hellenistischer und römischer Zeit ausmachte.

"A Sense of Agency: religion in the Attic demes" (130-196) befasst sich mit der Entwicklung religiösen Lebens in den attischen Demen zwischen 507 und 307 v. Chr. Humphreys arbeitet heraus, dass sich deren Kulte, und zwar auch die der ländlichen Demen, in engem Austausch mit denen des Poliszentrums entwickelten und offen waren für Innovationen. Die Demen waren demnach keineswegs Hort eines rituellen Traditionalismus, wie vielfach angenommen wurde. Sie reagierten auf neue Gegebenheiten, die sich z. B. aus der Veränderung innerhalb des Kultkosmos der Gesamtgemeinde oder aus neuen Erfordernissen für die Finanzierung ihrer Kulte ergeben konnten, und auf Herausforderungen durch besondere Ereignisse (Krankheiten, Himmelszeichen usw.) im Rahmen eines großen Manövrierspielraums, der es erlaubte, alte Riten zu modifizieren, neue Opfer einzuführen oder die überkommenen Kulte anders zu gewichten als bisher.

Im fünften Kapitel (197-122) geht es um die wissenschaftshistorische Entwicklung der Annahme, dass Rituale, die der Sicherung und Steigerung der Fruchtbarkeit von Pflanzen, Tieren oder Menschen dienten, die älteste Form der griechischen Religion gewesen seien. Dieser Aufsatz ist zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Beitrag des Historizismus zur Erforschung des griechischen Kultus. Er erweist den Versuch, den Kern der griechischen Rituale auf Fruchtbarkeitsmotive zurückzuführen, als Konstruktion des 19. Jahrhunderts. Diese stützte sich auf eine einseitige Konzipierung der religiösen Bedürfnisse des 'primitiven Menschen' und betonte den Traditionalismus des griechischen Rituals, während andere Perspektiven in den Hintergrund gedrängt wurden.

Der Beitrag "Metamorphoses of Tradition: the Athenian Anthesteria" (223-275) verfolgt die Entwicklung dieses Dionysos-Festes von den Anfängen bis in die römische Zeit und betont die unterschiedlichen historischen und theologischen Kontexte, in die es von den jeweiligen Zeitgenossen gestellt wurde. Humphreys wendet sich damit gegen den gängigen Versuch, aus den Quellen für dieses Fest, die aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen stammen, ein gewissermaßen idealtypisches Bild des mit dem jungen Wein und der Verehrung der Toten zusammenhängenden Festes und seiner Bestandteile zu zeichnen. Eine diachrone Betrachtung der Quellen und der Festentwicklung ist dagegen ein klarer Beleg gegen die vielfach unterstellte Statik der Anthesterien und generell griechischer Rituale, die offen waren für Modifikationen und polyvalente Interpretationen; der Einfluss spekulativer Seiten der griechischen Religion auf die Entwicklung der Anthesterien erscheint nach Humphreys Überlegungen jedenfalls unverkennbar.

Ihr breites Fundament wird durch das ausführliche Literaturverzeichnis dokumentiert (279-347). Quellenregister sowie ein General Index erschließen den Gehalt der Untersuchungen.

Humphreys Buch macht es - was sie im Vorwort selbst anspricht - seinen Lesern nicht immer einfach. Dafür sorgt schon der stete Wechsel zwischen detaillierten Untersuchungen antiker Religionspraxis und der Einbindung der Kulte in die verschiedenen Ebenen des Polislebens einerseits sowie den Reflexionen über die Fragestellungen und Perspektiven andererseits, denen sie in der älteren und modernen Forschung unterworfen wurden. Unstreitig ist auch, dass die Kapitel nicht systematisch aufeinander aufbauen und das Buch den Charakter einer Aufsatzsammlung nicht überwinden kann. Dennoch stellt die konzentrierte Präsentation der Überlegungen Humphreys' einen wertvollen Beitrag zur Erforschung von Ritus, Kultus und Religion der Griechen dar, der durch die kritische Analyse verbreiteter Auffassungen die weitere Diskussion nur befruchten kann.

Bernhard Smarczyk