Rezension über:

Hermann Weber / Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin: Karl Dietz 2004, 992 S., ISBN 978-3-320-02044-6, EUR 49,90
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Rezension von:
Hartmut Mehringer
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hartmut Mehringer: Rezension von: Hermann Weber / Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin: Karl Dietz 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/3821.html


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Hermann Weber / Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten

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Vor über 35 Jahren, 1969, erschien Hermann Webers große zweibändige Untersuchung "Die Wandlung des deutschen Kommunismus". Trotz weniger früherer einschlägiger Arbeiten - wie etwa Ossip K. Flechtheims "Die KPD in der Weimarer Republik" (1948) und Siegfried Bahnes Studie über die KPD in dem für die damalige Parteienforschung grundlegenden Sammelband über "Das Ende der Parteien 1933" von Erich Matthias und Rudolf Morsey (1960) - bildete diese Untersuchung in mehrfacher Hinsicht einen historiografischen Meilenstein: Sie gab der Geschichtsschreibung der deutschen Arbeiterbewegung, die sich in der Folgezeit in breitem Rahmen entwickelte, einen bedeutenden Schub, befruchtete entscheidend die wenig später einsetzende historische Spezialdisziplin Exilforschung 1933-1945 und lieferte - last but not least - der damaligen Studentenbewegung bei ihrer Suche nach historischen Traditionen vor 1945 und vor 1933 wesentliche Orientierungshilfen, ohne allerdings das alsbaldige Abgleiten zahlreicher ihrer Vertreter in unfruchtbares Linkssektierertum verhindern zu können. Zwar konzentrierte sich Webers damalige Untersuchung auf die Weimarer Republik, in engerem Sinn sogar nur auf die Jahre 1924-1929; entscheidendes Novum war jedoch die in Band 2 präsentierte umfangreiche Sammlung von über 500 Funktionärsbiografien des KPD-Führungskorps. Diese umfassten die gesamte Lebensspanne der ausgewählten Protagonisten und bezogen somit auch Widerstand und Exil nach 1933 sowie die politische Geschichte der Nachkriegsjahrzehnte mit ein. Zentrales, vom Autor nachdrücklich beklagtes Quellendesiderat bildete die Tatsache, dass Archive sowie Partei- und Behördenregistraturen der damaligen DDR unzugänglich blieben und auf Anfragen nicht reagierten. Nichtsdestoweniger konnte der Autor schon damals feststellen, dass dem stalinistischen Terror im sowjetischen Exil nach 1933 mehr führende deutsche Kommunisten zum Opfer gefallen waren als dem nationalsozialistischen Verfolgungsapparat.

Mit der Implosion des realsozialistischen Systems in Europa vor gut anderthalb Jahrzehnten, das zur Öffnung nicht nur der Archive der ehemaligen DDR, sondern auch (zumindest zu einem guten Teil) der früheren sowjetrussischen Archive führte, nahm Hermann Weber den Faden der biografischen Untersuchungen erneut auf. Bereits 1989 erschien seine inzwischen mehrfach neu aufgelegte und erweiterte Studie über die "Weißen Flecken" in der DDR-Geschichtsschreibung, die sich speziell mit der Untersuchung der Opfer des stalinistischen Terrors unter den deutschen Kommunisten befasst. Mit dem jetzt erschienenen Biographischen Handbuch des deutschen Kommunismus 1918-1945, das die Biografien von 1400 in diesen knapp drei Jahrzehnten führenden Kommunisten umfasst, liegt nun erstmalig ein wirklich umfassendes, auf breiter, nicht durch politische Systemkonflikte eingeengter Quellenbasis beruhendes biografisches Standardwerk vor. Ihm kommt vor allem die Fülle der im ehemaligen Parteiarchiv der SED enthaltenen Daten und Informationen zugute, die heute im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO) offen gelegt sind.

Die Aufnahmekriterien sind breit ausgerichtet. Es sollten nicht nur die führenden Funktionäre der Partei im engeren Sinne (also Zentrale- bzw. ZK- und Politbüro-Mitglieder, deutsche Mitglieder der Komintern-Institutionen etc.) aufgenommen werden, sondern auch die Pol- und Org-Leiter der 27 Parteibezirke, die Agitprop- sowie die Gewerkschaftssekretäre, die ZK-Abteilungsleiter, die Chefredakteure und Redakteure des Zentralorgans "Die Rote Fahne", die Chefredakteure der regionalen KPD-Blätter, die Reichstags-, Landtags- und Bürgerschaftsabgeordneten sowie - besonders wichtig - die führenden Funktionäre der zahlreichen Massenorganisationen, die illegalen Führungsfunktionäre nach 1933 (ein besonders heikles Kapitel). Zu diesen gehören die Teilnehmer der "Brüsseler" Konferenz in Moskau 1935 und der "Berner" Konferenz 1939 in Draveil bei Paris sowie die leitenden Funktionäre der verschiedenen auf geheimdienstlicher Basis organisierten, zumeist nicht einmal formell als KPD-Mitglieder registrierten Funktionäre der kommunistischen "Militär"-, "Zersetzungs"- und "Nachrichten"-Apparate, die vor allem in der Kriegszeit sehr rasch den Komintern- bzw. den sowjetrussischen Geheimdiensten verpflichtet waren. Hier fallen durchaus Lücken auf, die vermutlich vor allem darauf zurückzuführen sind, dass die Letztgenannten und sonstige "fellow travellers" wie etwa Hubert von Ranke in die KPD- bzw. SED-Parteiregistratur aus konspirativen Gründen nicht aufgenommen wurden und insofern nicht aufscheinen.

Das Biographische Handbuch der deutschen Kommunisten beschränkt sich verdienstvollerweise auf den gesetzten Zeitrahmen 1918-1945. So ist, um prominente Beispiele herauszugreifen, natürlich Walter Ulbricht mit seiner gesamten Lebensspanne (1893-1973) vertreten, nicht aber Erich Honecker (1912-1994), der im fraglichen Zeitraum die Aufnahmekriterien in das Handbuch nicht erfüllte. Hermann Weber hat - zusammen mit Andreas Herbst - mit diesem Band erneut einen historiografischen und biografiegeschichtlichen Meilenstein vorgelegt und damit einmal mehr Hans-Ulrich Wehler widerlegt, der noch vor gut 30 Jahren eine "Krise der politischen Biografie" konstatierte und auf Grund der "Durchschlagskraft von Kollektivphänomenen" einem biografischen Zugriff auf historische Entwicklungen keinen Erkenntnisgewinn mehr einräumte.

Leise Kritik bleibt dennoch anzumelden. Selbstverständlich konnten die Herausgeber nicht alle 1400 Biografien selbst abfassen, sondern stützten sich zunächst auf die - im Lichte der neuen Quellen kritisch überprüften, ergänzten und korrigierten ca. 500 Biografien aus "Die Wandlung des deutschen Kommunismus", Bd. 2, sowie die "Weißen Flecken". Ein erheblicher Teil der Biografien wurde neu erstellt. Im Anhang ist eine außerordentlich eindrucksvolle Liste der benutzten Archive, Quellen, Protokolle, Handbücher etc. sowie der inzwischen erschienenen Literatur aufgeführt. Nichtsdestoweniger entsteht mitunter der Eindruck, man habe sich doch hin und wieder ohne weitere kritische Nachfrage auf die in der SAPMO vorliegenden KPD-Kaderakten verlassen.

Hierzu nur ein besonders signifikantes Beispiel: Karl Frank (1893-1969), in der Weimarer Zeit zunächst KPÖ-, dann KPD-Mitglied und in zahlreiche spektakuläre Aktionen verwickelt, spielte spätestens ab 1933 eine führende Rolle in der linkssozialistischen Gruppe "Neu Beginnen". Er war deren Auslandsleiter in Prag und nach der Spaltung, die 1935 die frühere Führung unter Walter Loewenheim entmachtete, der führende Kopf dieser Gruppe bis 1939, als er in die USA emigrierte und auf Grund der Kriegsereignisse die Verbindung zur in London verbliebenen "Neu Beginnen"-Zentrale allmählich verlor. Der Name "Neu Beginnen" taucht in der Handbuch-Biografie Karl Franks nur abseitig in einer Klammer auf, ansonsten wird er - entsprechend dem damaligen internen KPD-Vokabular - als Mitglied der "Miles-Gruppe" geführt. Dem in den Finessen sozialistischer und kommunistischer Exilpolitik nach 1933 Bewanderten ist dieser Begriff nicht fremd; er geht darauf zurück, dass Walter Loewenheim, 1933 noch unbestrittener Kopf der Gruppe, seine Programmschrift "Neu beginnen!", die der Gruppe ihren späteren Namen gab, im August 1933 im Graphia-Verlag des sozialdemokratischen Exil-Parteivorstands in Karlsbad unter dem Pseudonym "Miles" veröffentlichen konnte. Für den weniger Kundigen wären hier - ein Blick z. B. ins "Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933" hätte genügt - einige zusätzliche Informationen nützlich gewesen.

Hartmut Mehringer