Rezension über:

Felix Schneider: Oberösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1941 bis 1956 (= Bd. 3c), Graz: Verein zur Förderung der Forschung von Folgen nach Konflikten und Kriegen 2004, 356 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-901661-13-6, EUR 24,90
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Rezension von:
Andreas Hilger
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Hilger: Rezension von: Felix Schneider: Oberösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1941 bis 1956, Graz: Verein zur Förderung der Forschung von Folgen nach Konflikten und Kriegen 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/6459.html


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Felix Schneider: Oberösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1941 bis 1956

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Das im Jahr 1993 gegründete Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung sieht es als eine wesentliche Aufgabe an, Archivalien zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der ehemaligen Sowjetunion aufzuspüren und - schwerpunktmäßig - für die Österreich-Forschung auszuwerten. Aufgrund seiner allgemeinen Fokussierung auf die Analyse von Kriegsfolgen stellt die Untersuchung der Kriegsgefangenschaft "ostmärkischer" Wehrmachtsangehöriger in der UdSSR 1941 bis 1956 ein zentrales Thema seiner Arbeiten und Veröffentlichungen dar. [1]

In diesem Kontext ist die Monografie von Felix Schneider der dritte Titel, der sich dem Gesamtphänomen Kriegsgefangenschaft aus der Perspektive der Einwohner eines Bundeslandes annähert [2]: Unter den gut 125.000 kriegsgefangenen Österreichern lassen sich 14.832 Oberösterreicher nachweisen, ohne dass hier wie in allen anderen Arbeiten zur Kriegsgefangenschaft in der UdSSR eine letzte Vollständigkeit der Daten erreicht werden kann (15-17, 153). Im Übrigen bleibt festzuhalten, dass Österreicher insgesamt mehrheitlich in westliche und nicht in sowjetische Gefangenschaft gerieten.

Eine thematische Eingrenzung, die sich an der regionalen Herkunft der Gefangenen orientiert, lässt sich aus der historischen Entwicklung heraus indes kaum rechtfertigen. Der Autor ist sich dieses grundsätzlichen Problems sehr bewusst: Die sowjetische Gewahrsamsmacht, die österreichische Gefangene insgesamt erst relativ spät als eigene Nationalität einstufte, sah überhaupt keinen Grund dazu, deren Behandlung noch einmal nach Bundesländern auszudifferenzieren. Auch die Wehrmacht kannte keine "oberösterreichischen" Divisionen, deren Weg in und durch die Gefangenschaft man hätte nachzeichnen können (11 f.).

Schneider präsentiert zwei Möglichkeiten, dieses Dilemma aufzulösen: Zum einen wählt er die Lagerverwaltung Nr. 190 in Vladimir, die während ihres Bestehens von 1943 bis 1949 "eine vergleichsweise hohe Zahl an oberösterreichischen Kriegsgefangenen aufwies", für eine Detailstudie aus (170-196 und Dokumentenanhang 290-300, Zitat 170). Diese beschränkt sich aufgrund der Quellenlage allerdings auf Basisinformationen und Einsprengsel aus der Erinnerungsliteratur etwa zur Belegung, zum Arbeitseinsatz oder zur allgemeinen Versorgungs- und Lebenssituation. Eventuelle Besonderheiten des Lagerkomplexes, die beispielsweise sowjetischerseits in einer spezifischen Organisationsgeschichte, Personalauswahl oder regionalen Erfahrungshintergründen der Zivilbevölkerung begründet und damit für die Gesamtbewertung der unionsweiten Kriegsgefangenenpolitik relevant wären, werden nicht thematisiert. Die im Anhang abgedruckten Zeitzeugenberichte (230 ff.) stehen zudem in keiner erkennbaren Beziehung zum Lager Nr. 190. Eine wirkliche Lagergeschichte, die regionale und temporäre Besonderheiten innerhalb der Einrichtungen der Gewahrsamsmacht herausarbeitet sowie sowjetische Politik und Erfahrungen der Gefangenen abgleicht, ist in der Studie nicht angelegt.

Als wesentlich gelungener erscheint daher der zweite Ansatz. In Analogie zu jüngsten Überlegungen zur Kriegsgefangenengeschichte erweitert Schneider hierbei die Darstellung der Gefangenschaft zu einer (ober-)österreichischen Gesellschaftsgeschichte. [3]

Hier werden beispielsweise unter dem Stichwort Kriegsgefangenenfürsorge österreichische Maßnahmen zur Betreuung der entlassenen Gefangenen dargestellt. Neben der notwendigen gesundheitlichen Versorgung der Transporte fiel hierunter u. a. die Integration der Heimkehrer in den Arbeitsmarkt. Am Beispiel Linz kann Schneider spezifische Probleme dieser Aufgabenstellungen verdeutlichen. Daneben waren österreichische Dienststellen auch für die "Überprüfung der politischen Verlässlichkeit" der Heimkehrer zuständig (197 f., 206 f).

Von besonderem Interesse ist aber die außen- und innenpolitische Dimension der Gefangenschaft von Österreichern in der UdSSR. So machte die Präsenz der Besatzungsmächte schon die Suche nach Vermissten wie allgemeine Bemühungen um eine baldige Freilassung von Gefangenen zu einer prekären Angelegenheit. Auf der anderen Seite war etwa der KPÖ im Herbst 1945 eine erste Entlassungswelle gutzuschreiben, ohne dass sich diese für die Partei bei den ersten demokratischen Wahlen von November 1945 positiv ausgewirkt hätte. Die SPÖ wiederum bestritt den diesbezüglichen Wahlkampf u. a. mit einem Plakat, das den Austausch der Kriegsgefangenen gegen österreichische Nazis forderte!

Wie der deutschen, so galt auch der österreichischen Gesellschaft die Gefangenschaft in der UdSSR als besonders schwer und düster. Der wachsende Widerhall entsprechender Stimmungen in der Presse Oberösterreichs, das seinerseits in westliche wie sowjetische Besatzungsgebiete aufgeteilt worden war, spiegelt eindrucksvoll die Atmosphäre des eskalierenden Kalten Kriegs wider. So startete die größte regionale Tageszeitung noch im Sommer 1946 eine durchaus positiv eingefärbte Serie zur Gefangenschaft in der UdSSR, die im Dezember 1946 abrupt und ohne weitere Begründung abgebrochen wurde. Ab 1947/1948 mehrten sich die Forderungen nach einer beschleunigten Entlassung der letzten österreichischen Gefangenen aus der UdSSR, die bis 1949 an Schärfe zunahmen. Große, geschlossene Heimkehrertransporte setzten 1947 wieder ein. Die letzten, als Kriegsverbrecher verurteilten Österreicher wurden allerdings erst nach Abschluss des Staatsvertrags im Sommer 1955 aus der UdSSR entlassen. Den so genannten "Spätheimkehrern" konnte das wirtschaftlich gekräftigte Österreich ungleich effektivere Hilfestellung leisten, als es in den Jahren unmittelbar nach 1945 möglich gewesen wäre . Nicht nur sie, sondern alle Heimkehrer wurden in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion frühzeitig - und parallel zur bundesdeutschen Entwicklung - zu Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft verklärt und auf diese Weise in die österreichische Spielart der Vergangenheitspolitik (Norbert Frei) integriert.

Somit kann die Arbeit Schneiders am Beispiel Oberösterreichs vor allem eindrucksvolle Einblicke in gesellschaftsgeschichtliche Dimensionen von Kriegsgefangenschaft eröffnen. Gefangennahme und Gefangenschaft selbst aber bieten wenig Raum für eine regionale, landsmannschaftliche Ausdifferenzierung der Gefangenenheere in der UdSSR: Ein deutliches Zeichen hierfür ist es, dass der allgemeine Teil der Darstellung gut die Hälfte des Bandes in Anspruch nimmt.

In diesem ersten Abschnitt fasst Schneider die vorhandenen Forschungsergebnisse zu zentralen Aspekten der Gefangenschaft von österreichischen und deutschen Gefangenen in der UdSSR zusammen: Behandelt werden die sowjetische Lagerorganisation, Fragen der Verpflegung und medizinischen Versorgung, die politische Schulung, Arbeitseinsatz und Freizeitgestaltung, der Postverkehr mit der Heimat, die Verurteilungen österreichischer Gefangener als Kriegsverbrecher sowie die allgemeine sowjetische Repatriierungspolitik und, kursorisch, Integrationsprobleme von Heimkehrern.

Besonders gelungen sind hier die Überlegungen zum Lageralltag (63 ff.), während die Darstellung des völkerrechtlichen Fragen an diversen Ungenauigkeiten leidet (25, 29). So ist es angesichts des Grundlagenerlasses des Rats der Volkskommissare vom 1. Juli 1941 sowie des deutschen "Kommissarbefehls" kaum nachvollziehbar, wenn Schneider von "erstaunlichen Parallelen" in der Haltung von UdSSR und Deutschem Reich hinsichtlich des Kriegsvölkerrechts spricht (37).

Letztlich ist die Monografie Schneiders eine knappe Überblicksdarstellung der Gefangenschaft von Wehrmachtsangehörigen in der UdSSR. Die regionale Eingrenzung gewinnt ihre Rechtfertigung vor allem an der Nahtstelle von Gefangenschaft und Nachkriegsgesellschaft und kann hier wichtige Anstöße zu weiteren Forschungen zur Kriegsgefangenen- als Gesellschaftsgeschichte vermitteln. [4]


Anmerkungen:

[1] Vgl. bereits Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956, Wien 1995.

[2] Edda Engelke: Niederösterreicher in sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Graz 1998; Sabine E. Gollmann: Kärntner in sowjetischer Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Graz 1999.

[3] Vgl. Bob Moore / Barbara Hately-Broad (Hg.): Prisoners of War, Prisoners of Peace. Captivity, Homecoming and Memory in World War II, Oxford 2005.

[4] Vgl. hier auch Annette Kaminsky (Hg.): Heimkehr 1948, München 1998.

Andreas Hilger